Iron & Wine – „Tallahassee“

Künstler*in Iron & Wine

Iron & Wine Tallahassee Review Kritik
„Tallahassee“ zeigt die Geburtsstunde von Iron & Wine.
Album Tallahassee – Archive Series Volume No. 5
Label Sub Pop
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

„Das Tragischste, das einem bisher unveröffentlichten Album passieren kann, ist bisweilen die Veröffentlichung selbst. Meist wird klar, dass die Vorstellung des Ungehörten viel besser als die (bittere) Realität ist“, schreibt Daniel Decker in seinem Buch Not Available, für das er die Geschichten unzähliger „Lost Albums“ zusammengetragen hat. Also von nie regulär erschienenen Platten, die es gerüchteweise aber tatsächlich gibt, die angeblich irgendwo in den Archiven von Tonstudios, Plattenfirmen oder den Musiker*innen selbst schlummern – und die man als Fan natürlich liebend gerne hören würde.

Tallahassee ist so ein Album. Man kann es als das Debüt von Iron & Wine begreifen, denn bevor Sam Beam im September 2002 The Creek Drank The Cradle als seine offiziell erste Platte unter diesem Namen veröffentlichte, nahm er über einen Zeitraum von zwei Jahren (1998/99) in seinem Studentenzimmer in Tallahassee diese elf Songs auf, gemeinsam mit seinem Mitbewohner EJ Holowicki (der selbst eine Weile bei Iron & Wine aktiv war). Dieser war damals Tontechniker und Bassist und hat nun das Re-Issue produziert, denn ihm ist es letztlich zu verdanken, dass die Platte als Teil der offiziellen Archive Series von Iron & Wine überhaupt erscheinen kann. Denn Holowicki hat die Aufnahmen mehr als 20 Jahre lang aufbewahrt, während Sam Beam nach eigenen Angaben etliche der hier vertretenen Stücke schon längst vergessen hatte.

Why Hate Winter eröffnet den Reigen und setzt sogleich den Ton. Man kann an Leonard Cohen denken, so düster und zärtlich klingt die Erkenntnis, dass das Schlimmste an der kalten Jahreszeit natürlich nicht die Temperaturen sind, sondern die Einsamkeit. Später greift auch Cold Town dieses Thema wieder auf, was etwas erstaunlich ist an einer Uni in Florida.

Was Fans und Komplettisten (einige der Songs und auch etliche weitere frühe Aufnahmen von Iron & Wine sind wohl auch über Filesharing-Dienste verfügbar, hier aber natürlich in der viel besseren Qualität eines offiziellen Releases) danach entdecken können, erweist sich tatsächlich als interessanter Ausgangspunkt für die späteren Werke. This Solemn Day ist gelassener Countryrock mit Mundharmonika, in Loaning Me Secrets gibt es eine verschüchterte Lead-Gitarre und besonders sanften Gesang à la Nick Drake, opulenter als in Straight And Tall, das aus Schlagzeug, Bass, zwei Gitarren und zwei Stimmen besteht, wird es in Tallahassee nicht. Show Him The Ground ist das einzige Stücke, das eher den Charakter einer Skizze hat.

Calm On The Valley hätte schön ins Set von Nirvana Unplugged gepasst, Elizabeth kann man sich vorstellen wie die beschaulichen, reflektierten Momente von J Mascis. Der Walzer Valentine beschließt das Album und könnte wie viele der hier aus dem Archiv geholten Songs locker auch 50 oder 80 Jahre alt sein. Das von Daniel Decker geschilderte Szenario tritt jedenfalls nicht ein: Fans von Iron & Wine werden ihre Lieblingsmusik sehr wohl wiedererkennen, und der Blick in die Anfangstage von Sam Beam, damals am College of Motion Picture Arts der Florida State University eingeschrieben, ist auf jeden Fall lohnend dank einer sehr konsistenten Songqualität und einer intimen Atmosphäre, die Gemütlichkeit verbreitet, ohne belanglos zu sein.

Für das Video von This Solemn Day mussten womöglich Bäume sterben.

Website von Iron & Wine.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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