Irvine Welsh – „Kurzer Abstecher“

Autor*in Irvine Welsh

Irvine Welsh Kurzer Abstecher Review Kritik
Irvine Welsh macht in „Kurzer Abstecher“ Frank Begbie zum Helden.
Titel Kurzer Abstecher
Originaltitel The Blade Artist
Verlag Heyne Hardcore
Erscheinungsjahr 2016
Bewertung

Jim Francis arbeitet als Bildhauer in Kalifornien. Er hat eine schöne Frau, zwei Töchter und ein Haus wie aus dem Bilderbuch des American Way Of Life. Einen Namen in der Kunstwelt hat er sich gemacht, weil er entstellte Skulpturen von Prominenten erschafft, die er in seinem Atelier mit Messern malträtiert. Er ist die Hauptfigur in Kleiner Abstecher, und nicht nur wegen des Stickers „Featuring Begbie aus Trainspotting“ auf dem Einband ahnt man schnell, dass Irvine Welsh seinen Fans hier (wieder einmal) das Wiedersehen mit einem der Protagonisten aus seinem Debütroman ermöglicht. Der Mann, der seine Werke mit „Jim Francis“ signiert, ist Frank Begbie. Zuhause in Schottland wird er Franco genannt – und noch immer gefürchtet als Gangster, Brutalo und Psychopath.

Läuterung und Sinneswandel nimmt man ihm in diesem Roman erstaunlich schnell ab. Während einer Therapie beim jüngsten seiner zahlreichen Gefängnisaufenthalte hat er eine neue Liebe gefunden und die Kunst entdeckt, den alten Kumpels und Komplizen abgeschworen und dann in den USA neu angefangen. „Sein Leben erscheint ihm zusehends wie in mehrere Teile zerbrochen, so als hätte seine Vergangenheit ein anderer gelebt. Nicht nur, dass der Ort, an dem er nun zu Hause ist, und die Menschen, in deren Mitte er sich in diesem Moment aufhält, zwei völlig entgegengesetzte Pole darstellen – er fühlt sich, als wäre er selbst ein völlig anderer Mensch“, heißt es an einer Stelle.

Genauso überraschend ist der ruhige, achtsame, beinahe kultivierte Ton, den Irvine Welsh in Kurzer Abstecher anfangs anschlägt. Es gibt keine Gossensprache, keinen Drogenmissbrauch und (zunächst) auch keine Gewaltexzesse. Stattdessen werden die Leser*innen in Rückblenden-Kapiteln bis in die Kindheit der Figuren mitgenommen und als das zentrale Thema des Buchs erweist sich die Familie – die neue Familie von Begbie in den USA, seine alte in Schottland, aber auch Familie ganz allgemein. „Es bringt einen Scheißdreck, seinen Kindern stumpfsinnig immer wieder ‚Macht ja nicht dieselben Fehler wie ich‘ zu predigen. Die beste Methode, dafür zu sorgen, dass sie keine Arschlöcher werden, besteht schlicht und einfach darin, selbst kein Arschloch zu sein – oder sie zumindest nicht sehen zu lassen, dass man eins ist“, erfahren wir beispielsweise.

Natürlich nimmt der Roman dann aber doch den Abzweig in Richtung Hardboiled-Thriller. Denn in Leith ist Sean getötet worden, Begbies ältester Sohn aus erster Ehe. Er hatte zwar nie eine enge Beziehung zu dem Jungen, reist aber erstmals nach sechs Jahren dennoch wieder nach Schottland, um der Beerdigung beizuwohnen und die Hintergründe der Tat aufzuklären. Der friedliebende Begbie, der Atemübungen macht und keinen Alkohol mehr trinkt, wird dort schnell auf eine harte Probe gestellt. Seine Recherchen führen ihn zurück ins kriminelle Milieu, und die Anziehungskraft von Gewalt und Rache ist für ihn bald genauso groß wie die verlockende Einladung auf ein Bier im Pub.

Geschickt schafft es Welsh, diesen Widerstreit aus neuen Überzeugungen und alten Dämonen zu einem Sog werden zu lassen, ohne dass dieser einigermaßen vorhersehbare Konflikt zu dominant für den Plot wird. Neben den erwähnten Gedanken zum Wesen der Familie und einigen weiteren Reflexionen („Das Leben entpuppt sich in unschöner Regelmäßigkeit als bedeutungsloser Witz. Entweder, du kriegst selbst die Sahnetorte ins Gesicht, oder du lachst über jene, die sie statt deiner abbekommen.“) gönnt sich der Autor auch ein paar Abschweifungen. So meckert er über den Scotsman und die mangelnde journalistische Qualität dieser Zeitung (die Kurzer Abstecher übrigens trotzdem lobend mit dem Werk von James Ellroy verglichen hat) oder feiert die modernen Produktionsstandards, derer sich Guns’N’Roses auf ihrem allseits als künstlerische Katastrophe geltenden Album Chinese Democracy bedient haben. Und natürlich hat er zum Schluss wieder eine große Pointe zu bieten – und das nächste Wiedersehen mit einem der Helden aus Trainspotting.

Bestes Zitat: „Im Grunde wollen die Menschen immer daran glauben, dass man es gut meint. Die Konsequenzen der Vorstellung, dass dem nicht so ist, wären zu finster, um auch nur daran zu denken.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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