Autor | Irvine Welsh | |
Titel | Porno | |
Verlag | KiWi | |
Erscheinungsjahr | 2002 | |
Bewertung |
„Ich hab mich nicht mehr so gut gefühlt, seit Archie Gemmill 1978 das Tor gegen Holland geschossen hat!“
Dieser Satz ist eines der bekanntesten Zitate aus Trainspotting. Mark Renton, so etwas wie die Hauptfigur, spricht ihn nach einer Liebesnacht mit Dianne aus, die sich am nächsten Morgen als 15-jährige Schülerin entpuppt. Das Besondere daran: Sex spielt in Trainspotting sonst kaum eine Rolle. Die Drogensucht ist bei den Protagonist*innen meist viel stärker als die Libido. Und selbst wenn sie doch einmal miteinander im Bett landen, ist meist auch nicht viel los: Heroin macht schließlich impotent. Bezeichnend ist deshalb auch, dass der besagte Satz in Trainspotting zwar vorkommt, aber nur im Film, nicht im zugrunde liegenden Roman von Irvine Welsh.
Dass der schottische Autor nun also ein Buch mit dem Untertitel Trainspotting – 10 Jahre danach geschrieben hat, das Porno heißt und über weite Strecken auch tatsächlich von Sex vor der Kamera handelt, überrascht. Allerdings trifft das nur auf den ersten Blick zu: Man findet in diesem Buch sehr viele und auch explizite Sexszenen, aber sie bringen den Beteiligten meist keine Erfüllung oder wirken allenfalls so lange beglückend, wie es ein Schuss für einen Junkie zu leisten vermag.
Treibende Kraft des Romans ist Simon Williamson alias Sick Boy. Nachdem er von seinem Freund Mark Renton übers Ohr gehauen wurde und sich in London für ihn wieder einmal eine Geschäftsidee zerschlagen hat, kehrt er nach Schottland zurück und übernimmt in seiner alten Nachbarschaft in Leith den Pub, den bisher seine Tante betrieben hat. Als Sick Boy den Amateur-Pornofilmer Juice Terry trifft, entsteht die Idee, das leerstehende Obergeschoss des Pubs als Drehort für einen Sexfilm zu nutzen. Etliche weitere zweilichtige Gestalten sind schnell mit an Bord, ebenso ein paar Studierende, die sich praktische Kenntnisse in Filmwissenschaften erwerben wollen. Eine typische Figur in diesem Ensemble schildert Welsh als ein „im Knastfitnessraum aufgepumpter Körper, das ja, aber dann durch Drogen und Alkohol wieder zurechtgestutzt. Seine Augen sind wilde, psychotische Schlitze, die durch meine Seele taumeln wie Fledermäuse und nach guten Dingen suchen, die sie kaputtmachen, oder schlechten Dingen, mit denen sie sich identifizieren können.“ Als Sick Boy erfährt, dass Mark Renton mittlerweile einen erfolgreichen Club in Amsterdam betreibt, spürt er ihn dort auf und gewinnt ihn als Co-Finanzier des geplanten Pornofilms namens Die sieben Säulen der Geilheit.
Natürlich verlaufen die Dreharbeiten bei einem derart unerfahrenen Team nicht gerade harmonisch – auch, weil reichlich Egos, offene Rechnungen und gegenseitige Verdächtigungen im Spiel sind. Das Team um Sick Boy als Regisseur produziert reichlich Chaos, sorgt für Misstrauen und Grabenkämpfe in der örtlichen Halbwelt und muss zudem die Polizei fürchten, die weder die illegalen Dreharbeiten noch die dubiose Finanzierung oder den großzügigen Kokainkonsum vor und hinter der Kamera gutheißen dürfte.
Welsh führt dabei viele der Figuren wieder zusammen, die seine Fans aus Trainspotting oder Glue kennen. Es gibt erneut mehrere Ich-Erzähler*innen, zunächst Sick Boy, der noch immer von einem Deal träumt, mit dem er der Welt endlich beweisen kann, wie großartig er ist, und die 25-jährige Studentin Nikki, die sich in einem Saunaclub mit Handjobs etwas dazuverdient und dann zur Hauptdarstellerin des Films wird, später auch Renton, Spud und Begbie. Natürlich strotz auch sein fünfter Roman wieder vor Zynismus, Misanthropie, Drogen und Gewalt. Die Idee, mit einer Abzocke ganz groß rauszukommen und für immer ausgesorgt zu haben, sowie die Grundstimmung in Porno dürfte für seine Leser*innen ebenfalls vertraut klingen: „Wir sind abgestumpfte Typen in einer Szene, die wir hassen, einer Stadt, die wir hassen, und tun dabei so, als wären wir der Nabel der Welt, müllen uns mit Drogen zu, um das Gefühl zurückzudrängen, dass sich das wahre Leben irgendwo anders abspielt, und wissen dabei genau, dass wir nichts anderes tun, als dieser Paranoia und Ernüchterung neue Nahrung zu geben.“
Allerdings gibt es auch einige erhebliche Unterschiede zwischen diesem Sequel und Trainspotting. In Porno ist der Plot kein Mosaik zunächst unzusammenhängender Geschichten, sondern vergleichsweise gradlinig; auch wechselt die Erzählperspektive nicht mehr innerhalb eines Kapitels. Das heruntergekommene Leith steht auch hier im Zentrum, aber es gibt viel mehr Schauplätze: Von London führt der Weg über Edinburgh und Amsterdam bis nach Cannes. Dazu kommen ein paar stilistische Neuheiten. Eine sehr gute Idee sind die fantasierten Interviews, die Simon einem TV-Reporter und einem Fußballtrainer gibt, um damit immer wieder seinen unerfüllten Wunsch nach Ruhm, Reichtum und Anerkennung vorzuführen. Interessant sind auch die gelegentlichen Spiralen im Handlungsverlauf: Manchmal wird eine Szene erst von einem Ich-Erzähler geschildert, bevor die Handlung im nächsten Kapitel kurz zurückspringt und das Geschehen noch einmal aus einer zweiten Perspektive berichtet.
Beträchtliche Abweichungen gibt es auch zwischen Porno und der Film-Fortsetzung von Trainspotting. Als diese 2017 unter dem Titel T2 in die Kinos kam, wurde auch der Roman noch einmal neu aufgelegt. Doch die Verbindung ist sehr lose, insbesondere die Idee der Pornofilm-Produktion fehlt in der Leinwand-Adaption völlig, deren Handlung zudem 20 Jahre (nicht bloß 10) nach dem Ende von Trainspotting einsetzt. Insbesondere diese Differenz ist spannend, denn ein wichtiger Effekt des Romans ist die Erkenntnis, das sich eigentlich niemand aus dem Ensemble als Persönlichkeit weiterentwickelt hat, mit Ausnahme von Dianne. Sick Boy weiß mit seinem Sohn im Grundschulalter nichts anzufangen und verzweifelt fast an sich selbst, als sich in seiner Beziehung zu Nikki plötzlich echte Gefühle einstellen. Begbie ist noch immer ein mordlüsterner Psychopath, Renton ein Möchtegern-Moralist mit Minderwertigkeitskomplex und Spud erkennt erst bei seiner Recherche über die Geschichte von Leith, dass es viel sinnvoller wäre, sich politisch aufzulehnen als Drogen zu nehmen – was er aber natürlich weiterhin bevorzugt.
In all diesem Junkie-Slang, all der Gossensprache und inmitten all dieser sattsam bekannten Gesichter des Irvine-Welsh-Universums sind es dabei die ernsten, reflektierten, sogar philosophischen Passagen, die am hellsten leuchten. Dazu gehört der erneute Hinweis darauf, wie zuverlässig die Prinzipien der neoliberalen, bürgerlichen Gesellschaft (Wettbewerb, Effizienz, Rücksichtslosigkeit) selbst in den Schmuddelecken unserer Gesellschaft ihre Wirkung entfalten, was eben nicht nur für das Drogengeschäft gilt, sondern auch für Erwachsenenunterhaltung. „Wir brauchen Titten und Ärsche, weil sie für uns verfügbar sein müssen; zum Betatschen, Ficken und Vollwichsen. Weil wir Männer sind? Nein. Weil wir Konsumenten sind. Weil es Dinge sind, die uns gefallen, Dinge, von denen wir glauben oder man uns eingeredet hat, dass sie für uns einen Wert darstellen oder uns Erleichterung und Befriedigung verschaffen. Wir schätzen sie und brauchen daher zumindest die Illusion, dass sie uns zur Verfügung stehen“, stellt Sick Boy an einer Stelle fest. „Aus diesem Grund ähneln sich auch Werbung und Pornografie; beide verkaufen die Illusion von Verfügbarkeit und Folgenlosigkeit des Konsums.“ Zudem findet sich in Porno mit der Reflexion über Heimat und Loyalität ein weiteres Welshes Leitmotiv: Auch dieser Roman erzählt davon, was Freundschaft alles auszuhalten vermag, und wie schwer es ist, seine Wurzeln zu kappen.
Bestes Zitat: „Man muss versuchen, rauszukriegen, was man ist und was nicht. Das ist unsere Aufgabe im Leben. Es gibt das, was man abstreift, wenn man sich losreißt, und das, was man immer in sich trägt.“