Autor | Jakob Hein | |
Titel | Herr Jensen steigt aus | |
Verlag | Piper | |
Erscheinungsjahr | 2006 | |
Bewertung |
Herr Jensen hat keinen Vornamen, keine Freunde und keine Frau an seiner Seite. Schlimmer noch aus Sicht unserer gesellschaftlichen Normen: Er hat keine Ausbildung, keinen Antrieb, keine Interessen, keine Erwartungen – und keinen Job. Das macht ihn zur Titelfigur in diesem Roman von Jakob Hein.
Der 1971 in Leipzig geborene Autor widmet sich hier der nicht allzu häufig in der deutschen Belletristik zu findenden Welt von Jobcentern, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der Herausforderung, mit sehr wenig Geld irgendwie 24 Stunden freie Zeit zu füllen. Sein Protagonist macht aus dieser Herausforderung eine Philosophie. Herr Jensen hat ein naturwissenschaftliches Studium abgebrochen und einfach die Stelle als Briefträger behalten, die er einst als Ferienjob angetreten hatte. Damit kommt er gut klar, denn obwohl seine Eltern sich wünschen, dass er Karriere macht oder ihnen wenigstens Enkel verschafft, hat er noch nie nach dem Maximum gestrebt. Sein Lebensideal ist vielmehr, „sich unbehelligt im Mittelfeld aufzuhalten, ohne dass ihn jemand störte“.
Nach mehr als zehn Jahren bei der Post fällt er allerdings einem Rationalisierungsprogramm zum Opfer. Er muss künftig also auf sein Einkommen und die wenigen sozialen Kontakte mit den Kolleg*innen verzichten, vor allem aber wird seine bisherige Routine empfindlich gestört. Der Eigenbrötler findet dafür eine ungewöhnliche Lösung: Er perfektioniert das Phlegma. Sein Dasein als Arbeitsloser betrachtet er nicht als Defizit oder Stigma, sondern als die Rolle, die ihm von der Gesellschaft zugewiesen wurde, und die er nun so konsequent und zuverlässig auszufüllen gedenkt, wie er früher Briefe zugestellt hat. „Herr Jensen sah dabei zu, wie seine Tage wie zähflüssiger Honig dahingingen. Ganze Wochen wurden bald gnädig reduziert auf ein schmerzloses Vakuum des Vergessens, nicht unterbrochen von peinlichen, unangenehm klaren und sich wiederholt aufdrängenden Begegnungen mit Menschen, die ihn immerzu fragten, was er machte. Nichts.“
Zuerst äußert sich das in extensivem Fernsehkonsum, den er mittels Videomitschnitten und Aktenordnern dokumentiert und analysiert. Als Synthese, von der er sich erhofft hatte, endlich zu verstehen, wie die Welt funktioniert, bleiben dann aber nur schlichte Erkenntnisse übrig, etwa „Man sollte schön sein“, „Man sollte viele Freunde haben“ und natürlich auch wieder „Man sollte arbeiten gehen.“ Als Reaktion auf diese Ernüchterung wirft er den Fernseher aus dem Fenster, später müssen auch sein Briefkasten und das Klingelschild dran glauben, sodass er schließlich alle Verbindungen zur Welt außerhalb seiner Wohnung gekappt hat.
Trotz der vemeintlichen Rock’N’Roll-Geste mit dem zerstörten TV-Gerät ist Herr Jensen aber keineswegs ein Rebell. Er verweigert sich der Leistungsgesellschaft, aber nicht aus politischer Überzeugung, sondern weil er letztlich ein Soziopath ist. Das führt zu einigen grotesken und witzigen Momenten in diesem Roman, ist aber auch das Problem an Herr Jensen steigt aus: Die Titelfigur ist eindimensional, bietet keine Möglichkeit für Identifikation oder gar Sympathie und bleibt letztlich ein erstaunlich blasses Medium für die sozialkritische Idee des Autors. Auch diese hätte zudem weitaus mehr Potenzial gehabt.
Jakob Hein wählt eine Sprache, die offensichtlich sehr bewusst so lakonisch, kühl und distanziert ist wie sein Protagonist, er schafft es auch, diesem Buch eine Entwicklung bis hin zur Eskalation (Jensen wird nach und nach wahnsinnig und schließlich paranoid) zu verleihen, obwohl seine Hauptfigur nichts tut. Vor allem gelingt es ihm in Herr Jensen steigt aus, etliche Absurditäten des Wirtschaftssystems und der Arbeitsvermittlung aufzuzeigen. So verliert Jensen im Rahmen eines Sozialplans seinen Job bei der Post, damit betriebsbedingte Kündigungen von regulären Beschäftigten vermieden werden können, oder erlebt eine sinnlose Qualifizierungsmaßnahme, die einzig den (vollkommen unqualifizierten) Coaches einen Job verschaffen dürfte. Nicht zuletzt zeigt der Autor auf, wie sehr unsere Fixierung auf die Erwerbstätigkeit als Lebensinhalt einem Fetisch nahe kommt. Aber seine Kritik ist wohlfeil und vor allem nicht so bissig, wie es diese Schlussfolgerung nahegelegt hätte.
Das Aufbegehren seines Protagonisten, der an den Titelhelden in Herman Melvilles Erzählung Bartleby erinnert, erwächst daraus, dass er Widersprüche erkennt. Aber er reagiert darauf bloß wie ein in seiner Bequemlichkeit gekränktes Kind. Jensen sucht zwar nach Lösungen, um die sozialen Standards bei Moral, Liebesbeziehungen oder eben Karriere verstehen und womöglich gar befolgen zu wollen, aber er will diese Antworten aus der Theorie beziehen und auf dem Silbertablett erhalten, ohne eigene Erfahrungen, ohne Risiko, ohne Verantwortung und ohne Schmerz. „Wenn ein kluger Mensch über die Schwerkraft nachdachte und dann eine allgemeingültige Formel entwickelte, dann musste es doch auch möglich sein, dass jemand über die Welt nachdachte und dann ein Buch darüber schrieb, das zum Beispiel Herr Jensen lesen und damit die Welt verstehen könnte“, heißt es an einer Stelle.
Bezeichnenderweise ist auch der Titel des Buchs unzutreffend: Herr Jensen kann gar nicht aussteigen, weil er niemals irgendwo zugehörig war. Auch deshalb fällt es so schwer, empathisch mit ihm zu sein oder in diesem Roman auch bloß einen Appell für eine Neubewertung gesellschaftlicher Normen zu erkennen. Was Ausgrenzung, Schikane und sozialer Abstieg ist, verwandelt sich in Herr Jensen steigt aus bloß in einen Sonderling, der an der eigenen Eitelkeit leidet.
Bestes Zitat: „Das Zuhören und die Aufmerksamkeit liebten die Frauen. Aber offensichtlich liebten sie auch die Männer, von denen sie das nicht bekamen.“