Künstler | Jenny Hval | |
Album | The Practice Of Love | |
Label | Sacred Bones | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
Man kann musikalische Anknüpfungspunkte bei diesem Album finden etwa zu Björk, Heather Nova, Jean-Michel Jarre, Saint Etienne oder Everything But The Girl. Sehr hohe, helle, klare Frauenstimmen prägen The Practice Of Love, mit dem Genre „Ambient“ läge man bei oberflächlicher Betrachtung nicht ganz falsch. Und doch würde man Jenny Hval damit auf grausame Weise verkennen. Denn mit der Tendenz zum Einschlummern oder dem Charakter als Nebenbei-Musik, die so häufig mit „Ambient“ verbunden wird, hat das siebte Album der Norwegerin gar nichts zu tun. Viel zu abenteuerlich ist das, was man in diesen acht Tracks entdecken kann, im Klang ebenso wie in den Texten.
Der Albumtitel ist teilweise inspiriert vom gleichnamigen Film von Valie Export (1985), geht aber über diese Verbindung hinaus. „Das klingt alles sehr klischeehaft, wie der durchschnittliche Spruch auf einer Grußkarte. Aber für mich ist die Liebe und die Praxis der Liebe tief mit dem Gefühl des Andersseins verbunden“, sagt Jenny Hval. „Liebe als Thema in der Kunst war bisher immer die Domäne der kanonisierten, großen Künstler, und ich habe mich immer als Nebenfigur gesehen, eine Stimme, die von anderen Dingen spricht. Aber in den vergangenen Jahren wollte ich die Praxis des Andersseins, diese fragile Perfomance, genauer betrachten und untersuchen, wie sie Liebe, Intimität, Empathie und Begierde ausdrücken kann. Ich wollte größere, umfassendere, idiotische Fragen stellen wie: Was ist unser Job als Mitglied der Menschheit? Müssen wir diesen Job annehmen? Und wenn wir uns weigern: Hört der Druck, normal zu sein, jemals auf?“
Die Intelligenz, die in diesem Statement steckt, hört man auf The Practice Of Love ebenso heraus wie die Lust auf Provokation. Lions (featuring Vivian Wang) eröffnet das Album mit einem vorsichtigen Beat, dann einer gesprochenen Stimme, die dazu auffordert, die Landschaft zu beobachten, was zur Erkenntnis führt: Die Natur braucht keinen Gott, um Schönheit und Ordnung zu erreichen. Die Heldin in High Alice bewegt sich zwischen Welten und Zeitaltern auf der Suche nach etwas, das nichts Geringeres als Erfüllung ist. Das Ergebnis paart einen Beat, der direkt aus den Charts der ganz frühen Neunziger entsprungen zu sein scheint, mit einer verführerischen Stimme, wie Enigma ohne Kitsch. Six Red Cannas, bei dem neben Vivian Wang auch Félicia Atkinson und Laura Jean Englert mitgewirkt haben, nennt im Text ein paar Jahreszahlen, die eindeutig aus unserer Zeitrechnung stammen, aber der Song scheint sonst wenig Anknüpfungspunkte mit der realen Welt zu haben.
Immer wieder sind die Klänge The Practice Of Love wie märchenhaft oder verwunschen und bilden damit eine perfekte Entsprechung für die Texte, die mit einem hohen Maß an Poesie von Vergänglichkeit, Konformität und Weiblichkeit erzählen, wobei Fortplanzung – wie auf dem Vorgänger Blood Bitch (2016) – nicht das unwichtigste Thema ist. „I was just an accident / I was just an accident, even to myself“, heißt die Erkenntnis in Accident, und in genetischer Hinsicht gilt das natürlich für uns alle. Der Titelsong The Practice Of Love erweist sich als ein Gespräch über Kinderlosigkeit zwischen Laura Jean Englert und Jenny Hval, über das sich dann ein von Vivian Wang vorgelesener Monolog legt, der den Begriff, das Konzept und die Umsetzung (nicht das Gefühl) von Liebe hinterfragt und dem Film Something Must Happen (geschrieben von Jenny Hval) entstammt.
Ordinary (mit Vivian Wang und Félicia Atkinson) ist wieder so ein rätselhaftes Klanggemälde, in dem die Stimmen die kräftigsten Farben sind, dann greift ein Beat einen Rhythmus auf, von dem man in diesem Moment erst bemerkt, dass er schon die ganze Zeit da war. Ihren Gesang betrachtet Jenny Hval hier als „die Stimme von jemandem, der einst ein aufgebrachter Teenager und wütend auf die Hierarchien war. Jetzt, viele Jahre später, ist diese Person nicht mehr wütend, aber immer noch abseits des Mainstreams und voller Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ich wollte dem Gefühl, von der Welt getrennt zu sein, einen mystischen, aber schönen Ort geben, also Popsongs … einen Ort, der auch genug Tiefe enthält, um sich darin zu vergraben.“
Die Holzbläser am Anfang von Thumbsucker (featuring Félicia Atkinson) scheinen ein Geheimnis zu kennen und vielleicht auch verraten zu wollen, wenn man ihnen in dieses mystische Lied hinein folgt, das mit einer kurzen Passage endet, die wie Musik vom Jahrmarkt aus einem Horrorfilm klingt. Die Single Ashes To Ashes ist das beste Lied der Platte, Jenny Hval schildert darin, wie sie von einem perfekten Song geträumt hat. Wenn sie aufwacht, wird sie hoffentlich erkennen: Mit The Practice Of Love ist sie dem perfekten Album schon sehr nahe gekommen.