Udo Lindenberg DDR

Joachim Hentschel – „Dann sind wir Helden“

Autor*in Joachim Hentschel

Joachim Hentschel Dann sind wir Helden Review Kritik
Den musikalischen Ost-West-Austausch betrachtet Joachim Hentschel.
Titel Dann sind wir Helden. Wie mit Popmusik über die Mauer hinweg deutsche Politik gemacht wurde
Verlag Rowohlt
Erscheinungsjahr 2022
Bewertung Foto oben: Polydor Island Group

Eine halbe Million Menschen kam, als David Hasselhoff 1989 das Lied Looking for Freedom an der Berliner Mauer sang. Die Single hatte sich zuvor in Deutschland teilweise mehr als 70.000 Mal pro Tag verkauft und acht Wochen lang die Spitze der Charts belegt. Kein Wunder, dass The Hoff womöglich noch immer wirklich glaubt, er habe mit diesem Lied die Mauer zu Fall gebracht.

Auf Seite 22 kommt David Hasselhoff auch in diesem Buch vor. Es ist ein sehr kurzer Auftritt, und das ist durchaus passend. Denn einerseits spürt Autor Joachim Hentschel in Dann sind wir Helden der Frage nach, ob Musik wirklich die Macht haben kann (oder sie zumindest damals hatte), die Weltgeschichte zu beeinflussen. Das ist der idealistische, romantische Aspekt dieses Buchs: Hentschel ist glühender Musikfan, er huldigt der Kraft dieser Kunstform, insbesondere dem Funken zum Entzünden einer Revolte, der im Rock’N’Roll steckt. Bei seinem Blick auf die Rolle von Popkultur im deutsch-deutschen Mit- und Gegeneinander während der Zeit des Kalten Kriegs ist fast ein etwas neidisches Bedauern zu spüren. „Nur sehr wenige der Leute in dieser Geschichte waren Betrachter oder Zuhörer, die einfach nur konsumierten – das darf man nicht vergessen, wenn man nun zum Schluss darüber nachdenkt, ob so etwas heute noch möglich wäre“, schreibt er am Ende seines Werks. „Ob und wie Musik die Menschen zur Sehnsucht und zum Aufstehen gegen Repressionen motivieren könnte. Ob sie noch genug Bedeutungskraft aufbringen würde, um das zu schaffen.“

Zum anderen zeigt Hentschel hier auf knapp 400 Seiten auf, wer wirklich die entscheidenden Akteur*innen waren, wenn man Popsongs schon einen Beitrag beim Sturz des DDR-Regimes und der deutschen Wiedervereinigung zuschreiben möchte. Das ist der sachliche, nüchterne Aspekt des Buchs. Der 1969 geborene Autor, sonst beispielsweise für Süddeutsche Zeitung, Rolling Stone oder Spiegel aktiv, blickt dabei auf große Namen wie Nena, BAP, Die Toten Hosen, Karat, die Puhdys, Peter Maffay und (natürlich) Udo Lindenberg, dazu auf viele selbst im Ost-Gedächtnis längst vergessene Acts. Fast noch interessanter ist aber, dass er auch die Rolle der mindestens ebenso wichtigen Menschen in der Kulturpolitik und Musikindustrie analysiert. Er rekonstruiert die Strukturen von Business, A&R und Marketing, die es natürlich auch in der DDR gab, er schildert den Kampf um Auftritte, Airplay und Plattenverträge und er hat nicht nur fleißig Akten gewälzt, sondern im Rahmen der 40 für dieses Buch geführten Interviews vielen fast vergessenen Zeitzeugen viele sehr interessante Informationen entlockt.

Seine eigene Motivation und sein frühes Interesse an der Musiklandschaft im Osten schildert der aus Bayern stammende Autor so: „Und trotzdem, trotz dieses Grabens, (…) gab es da ein Gefühl von tiefer Verbindung, das uns nicht losließ. Eine Neugier, eine zarte Abhängigkeit, eine selbst uns satten West-Teenagern vorhandene Ahnung, dass diese DDR auch etwas mit uns zu tun hatte, ziemlich viel sogar.“ Es ist in der Tat eine der größten Stärken von Dann sind wir Helden, dass er mit der gleichen Neugier, demselben Einfühlungsvermögen und einem feinen Gespür, an welchen Stellen die historischen Gegebenheiten für heutige Leser*innen mit Kontext angereichert werden sollten, auf beide deutsche Staaten blickt.

Er erliegt nicht der Versuchung, Alltag und kreatives Wirken in der DDR nur als Geschichte von Mangel, Unterdrückung und Bespitzelung zu erzählen, sondern beweist ein tiefes Verständnis für Mentalitäten und Zwänge im real existierenden Sozialismus, wie etwa diese Stelle beweist: „In der westlichen Welt gelten das Paradiesvogelhafte, die gewisse Eitelkeit und Arroganz, die man selbst erklärten Genies unterstellt, ja als die besten Voraussetzungen, um den Weg auf die große Bühne zu schaffen. All diese Eigenschaften scheinen allerdings dem zu widersprechen, was auf dem Papier und in den Parteitagsreden das sozialistische Ideal von Kultur ausmacht. Die Idee des Kollektivs, der Wert amtlich beglaubigter Fähigkeiten, die Begabte mit größtmöglicher Demut in den Dienst der Gemeinschaft stellen sollten. Eine Kunst, die dem Volk diente.“

Zu Beginn der Lektüre wünscht man sich an ein paar Stellen noch Fußnoten, dann hat man aber schnell ein so großes Vertrauen in seine Rechercheleistung und seine Fähigkeit zur Quellenkritik, dass das obsolet wird. So entsteht eine „lehr – und kenntnisreiche Geschichtsstunde“ (Der Tagesspiegel). Das Buch ist reich an Details und Anekdoten, es enthält Räuberpistolen und Tiefgründiges und zeigt sehr gekonnt auf, wie sehr die wechselnden Vorgaben der Propaganda und die aktuellen Möglichkeiten, auf der jeweils anderen Seite der deutschen Grenze Konzerte spielen und Platten verkaufen zu können, ein Spiegelbild des Auf und Abs aus Annäherung und Konfrontation war, das es auch in anderen Sphären in den 1970er und 1980er Jahren immer wieder gab. Der ehemalige DDR-Musiker, Musikproduzent und Radiomacher Walter Cikan spricht an einer Stelle von einem „Zwiespalt, der die Kulturpolitik im Osten so widersprüchlich erscheinen lässt. Einerseits wollte man sich schützen. Andererseits musste man die Menschen im Land aber auch irgendwie erreichen, mit ihnen kommunizieren. Und deshalb ging es immer hin und her. Man öffnete sich. Man machte wieder zu. Und wieder vor vorne.“

Wie wichtig damals die Fähigkeit war, zwischen den Zeilen zu lesen, zeichnet Hentschel wunderbar nach. Das galt nicht nur für die Hörer*innen in der DDR, die in Liedern vielleicht versteckten Protest oder eine lyrisch fein verkleidete Sehnsucht nach Freiheit erkennen konnten. Es galt auch für Künstler*innen in Ost und West im Umgang mit der DDR-Obrigkeit, wo oft großes diplomatisches Geschick gefragt war, um kleine Handlungsspielräume und kleine Zeitfenster günstiger Umstände für die eigenen Zwecke ausnutzen zu können. Nicht zuletzt ist Dann sind wir Helden, das als zeitgeschichtliches Sachbuch ebenso funktioniert wie als popkulturelle Analyse, glänzend und absolut unterhaltsam geschrieben. „Hentschel manövriert sein Publikum durch gewaltige Materialmengen und ist dabei, im besten Sinne, ein Erzähler: Er führt Figuren ein, seien sie für Insider noch so selbstverständlich, spielt mit Spannung, Timing und Sprache“, hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung treffend erkannt. Vielleicht das größte Lob für dieses Buch: Man muss weder Musikfan noch historisch interessiert sein, um die Lektüre relevant und sogar packend zu finden.

Bestes Zitat: „Wenige Staaten der Weltgeschichte haben der Musik je so viel produktive, gleichzeitig auch zerstörerische Kraft zugeschrieben, sie so ernst genommen wie die Deutsche Demokratische Republik. Und kein anderes hat damit die Züchtung und Förderung einer eigenen Popkultur zu einer solchen politischen Chefsache gemacht.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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