Künstler | Johannes Falk | |
Album | 360° | |
Label | Gerth Medien | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
„Wer wirklich frei sein will, muss aufs offene Meer“, hat Johannes Falk erkannt. Er singt diese Zeile in Nasse Füße, einem Lied über die Lust auf Risiko, sogar auf Niederlagen. An anderer Stelle bekennt der Sänger: „Ich würde mich gerne neu erfinden / doch ich kann nicht aus meiner Haut.“
Die Sehnsucht nach Ausbruch dürfte in ihm größer sein als bei den meisten Menschen. Geboren 1977 in Darmstadt, wächst Johannes Falk in einer streng religiösen Familie in Pfungstadt auf, mit elf älteren Geschwistern und all den Restriktionen, die eine Gemeinschaft mit sich bringt, in der nichts wichtiger sein darf als der Glaube. Lange geht das nicht gut: Mit 15 schmeißt er die Schule, gut zehn Jahre später kündigt er schließlich auch den Job in einer Chemiefabrik, um sich ganz auf die Musik konzentrieren zu können, zunächst in Form eines Studiums an der Mannheimer Pop-Akademie.
Dass er mit seiner Herkunft nicht gebrochen hat, schon gar nicht mit seinem Glauben, zeigte aber schon sein 2011er Debütalbum Pilgerreise. Auch das zwei Jahre später erschienene 360° setzt den inhaltlichen Schwerpunkt auf Gott, zu netten Singer-Songwriter-Popliedern, die sofort verstehen lassen, warum Johannes Falk schon im Vorprogramm der Söhne Mannheims und von Philipp Poisel aufgetreten ist und als Komponist etwa auch für Lieder von Laith Al Deen, Mogli und Max Giesinger verantwortlich war. „360° ist mein persönlicher Rundumblick, eine aktuelle Momentaufnahme meines Lebens. Es ist eine Sammlung von Gedanken, Gesprächen, Situationen in der Auseinandersetzung mit dem Leben, mit Gott und der Welt“, erklärt der Sänger den Ansatz für diese Platte und zugleich den Albumtitel.
Es gibt vier kurze Instrumentalstücke, die das Album strukturieren, und im besten Falle Lieder wie die große Klavierballade Alles fließt oder Der alte Mann und das Meer, in dem Johannes Falk mit vielen Seefahrt-Metaphern (für die er auch an anderer Stelle eine Vorliebe zeigt) einen rührenden Blick auf den letzten Lebensabschnitt seines Vaters wirft. In Ich baue uns eine neue Welt trifft mit der Zeile „Ich bau‘ uns eine neue Welt / genauso wie sie uns gefällt / genauso wie’s gedacht war“, reichlich Pippi-Langstrumpf-Chuzpe auf das Bestreben von Gottfried Wilhelm Leibniz nach der besten aller möglichen Welten, und zwar zu einem Sound, der perfekt zu Gloria passen würde.
Falk inszeniert sich zwar gelegentlich etwas selbstgefällig und theatralisch als Gefühlsmensch, gerne garniert mit Streichern und Bläsern. Seine Stärke ist allerdings, dass er dabei erstaunlich authentisch wirkt. Alles, was ich bin ist ein gutes Beispiel dafür: „Alles, was ich bin / bin ich durch dich“, singt Falk, er fährt dazu Geigen, einen Oho-Hintergrundchor und ein Powerballaden-Schlagzeug auf, trotzdem wird das Ergebnis nicht kitschig, jedenfalls nicht sehr. Man könnte das tatsächlich für ein Liebeslied halten, wären da nicht verdächtige Begriffe wie „Prophet“ und „Menetekel“ im Text. Denn natürlich wird hier nicht einer Frau gehuldigt, sondern Gott.
Genau dieser Punkt ist die Schwäche von 360°. Denn natürlich ist in der Popmusik ein Hang zur Mystik erlaubt, natürlich gibt es Gospel und natürlich darf jeder darüber singen, wie fromm er ist und wie viel Kraft er aus seinem Glauben zieht. Die Letzten ist ein Beispiel, wie das funktionieren kann. Natürlich werden sie „die Ersten sein“, wie es schon bei Matthäus 19,30 hieß. Aus dieser Überzeugung macht Johannes Falk ein Lied, das im Vergleich etwas rockiger wird, einen recht kräftigen Beat hat und vor allem in der Strophe gut auch zu Herbert Grönemeyer passen würde. Auch Nocturne kann man sich vielleicht noch gefallen lassen, wenn Falk mächtige Sprachbilder für eine mächtige Sehnsucht findet, deren Ziel im Ungewissen ist („Weil du mich siehst / und ich dich nicht“), nämlich bei Gott.
In vielen anderen Momenten von 360° sind sein Weltbild und seine Bekenntnisse aber so schlicht, dass es schmerzt und man erst recht nicht mithelfen mag, seine vermeintlich frohe Botschaft in die Welt zu tragen. Fallen lassen ist so ein Beispiel: Das Lied klingt wie eine Predigt, die erkennt, wie schwer das Leben ist, wie fehlbar wir sind. Als (Er-)Lösung wird ausgerechnet vorgeschlagen: „Wir könnten uns fallen lassen / in die Arme, die uns halten / in die Arme des Unsichtbaren“, und zwar zu einem Sound, der so wohlig ist, dass dieses Angebot tatsächlich verlockend klingt – zumindest wenn man bereit wäre, seine Selbstverantwortung abzugeben. Ganz ähnlich wird der Album-Schlusspunkt Liebe unendlich: Derjenige, der hier geliebt wird, ist unverkennbar Jesus Christus. Praktischerweise ist nicht nur seine Liebe unendlich, er wird auch gleich zur Lösung für alle nur denkbaren Probleme. So muss das wohl sein, wenn man der Sohn Gottes, der Erlöser und blablabla ist.
Mona Lisa hat Streicher, die ein wenig an Bittersweet Symphony von The Verve (also an The Last Time von den Rolling Stones) erinnern. Man möchte fast dafür beten, dass Jagger & Richards auch hier juristisch aktiv werden, denn so könnten sie dafür sorgen, die Welt vor weiterem Kontakt mit diesem Kitsch zu bewahren, in dem sich „sentimental“ auf „monumental“ reimt. Das Kernproblem von 360° zeigt auch Mein Platz bei dir: Das Lied setzt nur auf Gesang und Klavier, wird damit durchaus innig und in keinem Moment so überkandidelt wie beispielsweise Xavier Naidoo einen solchen Song wohl umsetzen würde.
So stark Johannes Falk hier allerdings als Komponist und Interpret ist, so sehr weigert er sich, der Autor seines eigenen Lebens zu sein und sucht stattdessen sein Heil in Metaphysik und Esoterik. „Wenn mein Leben mir um die Ohren fliegt / (…) habe ich einen Platz bei dir“, singt er im besagten Stück. Wieder sucht er also die Lösung in einer brenzligen Situation nicht bei sich selbst, nicht bei seinen Mitmenschen, nicht einmal in dieser Welt. Das ist wenig konstruktiv und letztlich sogar egozentrisch, wenn man davon ausgeht, dass es vielleicht auch andere Leute gibt, die dieses Problem ebenfalls gerne beseitigen würden, und zwar nicht durch Flucht ins Spirituelle, sondern tatsächlich, in dieser Welt, vielleicht unter Mithilfe aller, denen ebenfalls daran gelegen wäre. Genau deshalb funktioniert das zentrale Versprechen seiner Musik („Hier findest du Trost und Verständnis!“) nicht. Trost findet allenfalls er selbst, und auch das nur, solange er daran glaubt.