Autor*in | John Lanchester | |
Titel | Die Mauer | |
Verlag | Heyne | |
Erscheinungsjahr | 2019 | |
Bewertung | Foto oben: Walter Perathoner auf Pixabay |
Das Blöde an einer Insel ist ja das ganze Wasser drumherum. Zumindest gilt das in Zeiten des durch die globale Erwärmung verursachten Anstiegs des Meeresspiegels. Denn wenn das Wasser immer höher steigt, verschwindet die Küste, versinken Äcker in den Fluten und stehen Städte unter Wasser. Der Weltklimarat geht im mittleren Szenario seines heute veröffentlichten Sachstandsberichts von einem globalen Anstieg des Meeresspiegels um 75 Zentimeter bis zum Jahr 2100 aus, mit einer Beschleunigung in der Zeit danach. In den Gebieten, von denen wir heute bereits sicher wissen, dass sie noch in diesem Jahrhundert betroffen sein werden, leben derzeit 630 Millionen Menschen. Im schlimmsten Fall könnten die Pegel bis zum Jahr 2300 um 15 Meter steigen.
Das Schöne an einer Insel ist ja das ganze Wasser drumherum. Zumindest gilt das in Zeiten der durch den Anstieg des Meeresspiegels ausgelösten Flüchtlingsbewegungen. Denn was früher im Mittelalter der Wassergraben um eine Burg erledigt hat, leistet nun das Meer: Es erschwert allen ungebetenen Gästen den Weg zum Ziel jenseits des Wassers. Man kann nicht einfach zu dieser Insel hinspazieren, sondern muss übers Meer reisen, was eine Ausrüstung und meist auch eine Ausbildung erfordert, man muss vor Anker gehen und schließlich anlanden.
Und in diesem Roman von John Lanchester muss man auch noch Die Mauer überwinden. Sie umgibt in seinem Zukunftsszenario die gesamte Küste Großbritanniens, ist 10.000 Kilometer lang und wird rund um die Uhr von 200.000 bestens bewaffneten und eigens für diesen Dienst ausgebildeten Männern und Frauen bewacht. Erbaut wurde sie, weil der Klimawandel die Welt auf den Kopf gestellt und auf dem Planeten offensichtlich nur wenige bewohnbare Gebiete übrig gelassen hat. Die Brit*innen hatten Glück, dass ihre Insel dazugehört. Sie schützten sich vor Ansturm all derer, die weniger Glück hatten (und vor dem gestiegenen Meeresspiegel), indem sie die monströse Mauer errichteten. Alle Einwohner des Landes sind verpflichtet, dort zwei Jahre lang Wachdienst zu verrichten.
Joseph Kavanagh, der Ich-Erzähler des Romans, tritt zu Beginn der Handlung diesen Dienst als „Verteidiger“ auf der Mauer an. Seine Aufgabe ist es, die Mauer (und das Land dahinter) gegen die zu beschützen, die außerhalb sind. In seiner Heimat werden diese Menschen bloß „Die Anderen“ genannt. Es ist ein durchaus gefährlicher Job, denn die Zahl der Angriffe auf die Mauer nimmt zu. Die jungen Wehrpflichtigen können eigentlich sicher sein, innerhalb der zwei Jahre ihres Dienstes irgendwann in ein Gefecht verwickelt zu werden, etliche verlieren dabei ihr Leben. Wenn es Eindringlinge über die Mauer ins Land schaffen, ist das ebenfalls beinahe ein Todesurteil: Die verantwortlichen Verteidiger werden dann zur Strafe in einem Boot auf dem Meer außerhalb der Mauer ausgesetzt, sie werden dann also ihrerseits „Andere“. Um die abschreckende Wirkung weiter zu erhöhen, ist auch die Perspektive für erfolgreiche Immigrant*innen nicht rosig: Wer es auf die Insel schafft, wird dort immer aufgespürt (weil alle legalen Einwohner*innen über einen implanterten Chip verfügen, den Flüchtlinge nicht vorweisen können) und dann vor die Wahl zwischen sofortiger Hinrichtung und lebenslanger Versklavung gestellt.
Trotzdem versuchen permanent Menschen, über die Mauer zu gelangen. „Sie kommen in Ruderbooten und Schlauchbooten, auf großen, aufblasbaren Sitzreifen, in Gruppen und Rudeln und Paaren, in Dreierformation oder zu zweit oder allein; je kleiner ihre Anzahl, desto schwieriger sind sie oft aufzuspüren. Sie sind clever, sie sind verzweifelt, sie sind skrupellos, sie kämpfen um ihr Leben“, erkennt Joseph während seiner Zeit auf der Mauer, die ihn auch erstmals die Strukturen und Glaubenssätze hinter diesem Bauwerk hinterfragen lässt. „Ich war dazu erzogen worden, nicht über die Anderen nachzudenken, jedenfalls nicht in Bezug auf die Frage, wo sie herkamen“, muss er sich eingestehen. Als ihm klar wird, dass sie lieber als Arbeitssklaven für die Menschen der Insel existieren, mit einer Kugel im Kopf oder einem Bajonett im Bauch sterben oder schon auf dem Weg zur Mauer ertrinken wollen, falls ihr Boot sich als antauglich erweist, bekommt er nach und nach eine Vorstellung davon, wie groß ihre Not sein Muss – wie unbarmherzig dieser antitreibhauseffektalistische Schutzwall ist, und wie sehr diese Mauer auch seine eigenen Priviligien schützt, für die er nichts geleistet hat, außer auf der richtigen Seite geboren worden zu sein.
Eine große Stärke des Buchs von John Lanchester ist, dass er dabei viele Details seiner Dystopie offen lässt. Wann das geschehen ist, was im Buch „der Wandel“ heißt (also das Spürbarwerden der Klimakatastrophe), wird nicht benannt, aber der Zeitpunkt ist offensichtlich irgendwo in der nicht allzu fernen Zukunft. Die Generation von Josephs Eltern kennt die Welt noch, wie wir sie kennen. Für ihn selbst sind Flugreisen, exotische Früchte im Supermarkt oder ein unbeschwerter Badetag am Strand hingegen absolut unerreichbare Artefakte aus einer untergegangenen Zeit.
Auch, wie genau diese neue Welt organisiert ist, wird – untypisch für dieses Genre – nur skizziert. Die Menschen haben sich eine angepasste Ordnung erschaffen und eine Struktur, um diese zu bewahren. Es gibt noch Politik, Wahlen, Hochschulen und Wirtschaft, es gibt Künstler und Eliten. Aber in den Fokus rückt der Autor nicht solche abstrakten Systemfragen, sondern tatsächlich das, was seinem Roman den Titel gibt: Die Mauer. Sie symbolisiert nicht nur die Gnadenlosigkeit der neuen Zeit, sondern auch das Gefühl, das Joseph und seine Altersgenoss*innen zwangsläufig haben müssen im Wissen um das, was früher war. Die Mauer ist keine Allegorie, sondern ganz konkret, ein Statement aus Tausenden Tonnen Beton.
„Es ist kalt auf der Mauer“, lautet der erste Satz, es ist obendrein trostlos und unwirtlich. Das Leben dort fordert Disziplin und Härte, es verführt zur Gleichgültigkeit, die sich in einem sehr lakonischen Erzählstil und einer ökonomischen Sprache des Autors ausdrückt. Meisterhaft gibt er die Monotonie eines zwölfstündigen Wachdienstes wieder, in dem Joseph nichts anderes tun kann (und soll), als aufs Meer zu blicken. Die Zeit, das Wetter, das Essen, der gelegentliche Blick zu den Kamerad*innen auf den Wachposten links und rechts, all das wird erzählerisch maximal zerdehnt, weil es so wenig Abwechslung gibt. Im glänzenden ersten Teil des Buches thematisiert der Autor nicht nur mehrfach, wie langweilig solch ein Geschehen voller Ereignislosigkeit statt Fortschreiten für seinen Protagonisten ist, sondern auch, wie wenig es eigentlich für Prosa taugt. Es gibt ganze Absätze mit Gedankenspiralen über Banalitäten wie die Zusammensetzung eines Energieriegels (Lanchester war mal Restaurantkritiker) und Absurditäten, in die man beim stunden- und monatelangen Nichtstun nun einmal hineingeraten kann. Der Mix aus „Kälte, Hunger, Langeweile und Erschöpfung“, wie es heißt, ist für Jospeh so erdrückend, dass er die tödliche Gefahr einer Begegnung mit den Anderen manchmal beinahe herbeisehnt.
„Die Tage unterscheiden sich kaum voneinander, es geschieht nicht viel, das einen Verlauf hätte und von dem man behaupten könne, dass es von A nach B ginge. Es gibt nicht viel zu erzählen. Es besteht zwar andauernd die Möglichkeit, dass etwas passiert – das ständige Risiko einer plötzlichen und totalen Katastrophe -, aber das ist nicht dasselbe wie etwas, das tatsächlich passiert. An den meisten Tagen passiert nämlich nichts. Das, womit ein typischer Tag die größte Ähnlichkeit hat, ist der Tag davor und der Tag danach“, heißt es beispielsweise. Der Autor suhlt sich genüsslich in solch existenzialistischen Beschreibungen der puren Langeweile, sein Ich-Erzähler spricht dabei die Leser ein paar Mal auch direkt an, als müssten diese auch bald ihren Dienst auf der Mauer verrichten und sollten von Jopseh Kavanahgs Erfahrungen profitieren. Das liest sich dann wie eine Mischung aus Tagebuch aus der Kaserne und Handbuch zum Überleben auf der Mauer.
Dieses großartige Auswälzen von etwas, das man auch in dem einzigen Satz „Joseph Kavanagh trat seinen Dienst an, und das war ziemlich eintönig“ hätte zusammenfassen können, hat dreierlei Funktion. Das Einfrieren des discours im ersten Teil lässt erstens die spätere Beschleunigung im Geschehen (Die Mauer bietet, was nach diesem Auftakt fast schockierend wirkt, tatsächlich sehr viel Spannung, einige Action und sogar eine Liebesgeschichte) umso spektakulärer erscheinen. Es vermittelt zweitens ein sehr eindringliches Gefühl der Unentrinnbarkeit, das auch für die späteren Kapitel des Buchs prägend bleibt, die nicht mehr auf der Mauer spielen. Drittens ist diese Beschreibung von Lethargie wohl auch als Symbol für unsere Trägheit im Umgang mit der Klimakrise zu verstehen. Zumindest kann man Passagen wie diese durchaus als (letzte) Mahnung in diese Richtung verstehen: „Ein bisschen wie das menschliche Leben im Allgemeinen, könnte man sagen, die furchtbare Regelmäßigkeit, mit der überhaupt nichts geschieht, und das tiefe Entsetzen, wenn dann doch etwas geschieht. Beeile dich und warte. Das ist das Motto, unter dem die meisten Leben stehen. Es ist auf jeden Fall das Motto, unter dem das Leben auf der Mauer steht. Das Einzige, das schlimmer ist, als wenn überhaupt nichts passiert, ist der Moment, in dem dann doch etwas passiert.“
Wie politisch Die Mauer ist, wird auch deshalb klar, weil das Buch, das es 2019 auf die Longlist des Booker Prize schaffte, etliche Phänomene als Zukunftsszenario beschreibt, die im Hier und Heute zumindest in Vorstufen schon zu erkennen sind: die Aufrüstung bei Frontex, Lebensmittelknappheit nach Dürreperioden, der Brexit als Reflex der Abschottung, Konflikte um Rohstoffe, Donald Trumps Mega-Zaun an der Grenze zu Mexiko. Auch unsere erschütternde Unfähigkeit, bei der Eindämmung des Klimawandels global zu denken, findet sich in seinem Buch: Selbst hier, nach Eintreten der Katastrophe, schaut jeder nur auf sich. Das gilt zunächst auch für Joseph, der dann zumindest nach und nach eine Ahnung davon entwickelt, wie verlogen, grausam und schamlos die Welt ist, die er verteidigen soll.
Zugleich schafft es Lanchester, der in Hamburg geboren wurde und schon 2012 mit Das Kapital einen Weltbestseller vorgelegt hat, seine Dystopie auch mit überraschenden und ebenso weitsichtigen Aspekten zu versehen. Da ist an einer Stelle beispielsweise das beglückende Gefühl, das Joseph spürt, als er endlich wieder selbst über den Zustand von hell und dunkel, warm und kalt entscheiden kann. Der Autor zeigt hier, wie wenig selbstverständlich diese zivilisatorischen Errungenschaften sind, und zugleich, wie gedankenlos wir beim Einsatz fossiler Brennstoffe geworden sind – sodass wir uns schließlich diesen ganzen Mist mit dem Klimakollaps eingebrockt haben. Besonders eindrucksvoll ist eine Passage, in der Joseph seine Eltern besucht. Lanchester zeigt hier, dass der Klimawandel nicht nur das Zeug hat, unsere Zivilisation zu vernichten, sondern auch unser Wertesystem auf den Kopf stellen dürfte. Joseph kennt, wie alle in seiner Alterskohorte, keinerlei Respekt vor der älteren Generation. Er verbindet mit Seniorität nicht Verdienste, Erfahrung und Weisheit. Stattdessen sind die Vorfahren besudelt und diskreditiert, sie haben sich als verantwortunglos und inkompetent erwiesen, weil sie die Situation nicht nur verschuldet, sondern sehenden Auges verschuldet haben. Sie haben in Saus und Braus gelebt und lassen nun die Nachkommen dafür büßen. In diesem Konflikt lassen sich durchaus einige der Gefühle erkennen, die sich auch in aktuellen Debatten um die Letzte Generation finden, auf beiden Seiten: Wut, Ohnmacht, Scham, schlechtes Gewissen – ebenso die damit oft verbundene Sprachlosigkeit.
Man kann diesem Roman vorwerfen, dass es wenige Szenen gibt, die so viel emotionalen Tiefgang haben und dazu beitragen, die Protagonist*innen mit etwas mehr Vorgeschichte und Horizont auszustatten. Tatsächlich sind die Figuren in Die Mauer insgesamt eher flach, aber auch da darf man Absicht unterstellen. Lanchester will wohl die Frage aufwerfen: Woher sollen Ambitionen, Differenziertheit, gar Heldentum kommen in einer so banalen, vulgären und eindimensionalen Welt, wie er sie hier beschreibt?
Alles ist hier aufs Notwendigste ausgelegt, um das Überleben zu sichern. Genau deshalb ist Die Mauer ein so wichtiges Buch, das eher noch aktueller geworden ist, seit Lanchester 2016 mit der Arbeit daran begonnen hat. Insbesondere sollte die Lektüre all jenen empfohlen werden, die dringende Maßnahmen zum Klimaschutz mit dem Verweis auf drohende Einschränkungen ihrer vermeintlichen „Freiheit“ sabotieren. Lanchester zeigt großartig, dass mit dieser Freiheit oft genug nur Überkonsum und Verschwendung gemeint ist. In seinem Zukunftsszenario haben die Folgen dieses Lebensstils die Menschen so sehr in die Enge getrieben, dass sie keine Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf ihren Lebensentwurf mehr haben, keine Chance auf Selbstentfaltung bekommen und niemand es mehr wagen kann, den Traum von Rebellion zu träumen. Die Post-Klimawandel-Realität (die in diesem Roman ziemlich nah an dem ist, was nach der heutigen IPCC-Prognose drohen könnte) verweigert den Menschen also alles, was wir einmal „Freiheit“ genannt haben – und das gilt hier nicht nur außerhalb der Mauer, sondern auch innerhalb.
Bestes Zitat: „Manchmal kann man einfach nur aus dem Gedanken Kraft schöpfen, dass man keine andere Wahl hat.“