John Niven – „Music From Big Pink“

Autor John Niven

John Niven Music From Big Pink Review Kritik
„Music From Big Pink“ ist ein Debüt über ein Debüt.
Titel Music From Big Pink
Verlag Heyne Hardcore
Erscheinungsjahr 2005
Bewertung

Als jemand, der selbst mehr als 2000 Plattenkritiken geschrieben hat, kann ich guten Gewissens behaupten: Die Rezension eines Albums ist auch deshalb so praktisch und gerne genommen, weil sie in der Regel zwei Dinge kaum erfordert, die in vielen anderen journalistischen Darstellungsformen elementar sind, nämlich Recherche (die wichtigsten Fakten werden von der Plattenfirma mitgeliefert, die wenigsten Kritiker machen sich die Mühe, das zu überprüfen oder durch selbst generierte Informationen zu ergänzen) und Fantasie (der Rahmen ist gesteckt, man nennt die Beteiligten, ein passendes oder abseitiges Genre, ein paar Vergleiche, liefert vielleicht eine Einordnung ins Gesamtwerk und schließlich eine Bewertung).

Man muss das im Hinterkopf haben bei John Nivens Music From Big Pink. Denn seine Betrachtungen über das gleichnamige Debütalbum von The Band erschienen ursprünglich in der „33 1/3“-Serie bei Continuum Books. In dieser Reihe, die mittlerweile knapp 150 Folgen umfasst, widmen sich ausgewiesene Fachleute beispielsweise den Platten von Neil Young, Abba, Pink Floyd oder David Bowie, musikwissenschaftlich, kulturhistorisch oder soziologisch, mit Blick auf Entstehungsgeschichte und Wirkungsmacht, meist auf rund 150 Seiten. Die einzelnen Beiträge sind letztlich nichts anderes als überlange Rezensionen.

Als John Niven dafür angefragt wurde und sich für den 1968 (also in seinem eigenen Geburtsjahr) erschienenen Klassiker der Flowerpower-Ära entschied, hatte er die überraschende Idee, keine tiefgründige Analyse zu Music From Big Pink abzuliefern, sondern Fiktion. Sein Buch erzählt die Geschichte von Greg, er ist Anfang 20, hat sein Jurastudium abgebrochen und ist jetzt hauptberuflich Drogendealer und Hippie im Woodstock das Jahres 1967, das sich damals wie „eine Insel vor der Küste Manhattans“ anfühlt. Er hat mehr Geld, als er braucht, und genießt die berufsbedingte Nähe zu den Stars wie denen von The Band (die sich damals noch The Hawks nannten), gelegentlich gar zum Säulenheiligen Bob Dylan, es gibt auch flüchtige Begegnungen mit Ringo Starr oder der Entourage rund um Andy Warhols „Factory“.

Eine zweite Zeitebene spielt rund 20 Jahre später in Gregs Heimatstadt Toronto. So etwas wie einen Plot gibt es in Music From Big Pink allerdings nicht. Das Buch lebt von der Recherche John Nivens, der dabei auch Erfahrungen aus seiner eigenen Tätigkeit in der Musikbranche einfließen lässt. Er schafft es, als Nachgeborener die Figuren so lebendig und authentisch wirken zu lassen, dass sie auch von Zeitzeugen als treffende Charakterisierungen gelobt werden. Das liegt auch daran, dass sie keine Glorifizierungen sind: „Dylan konnte sarkastisch, ätzend, unnahbar, abgehoben, alles zusammen sein, doch eins kann ich euch sagen: Verglichen mit Albert Grossman war er Charlie Brown.“ Zugleich lässt der Autor den Flower-Power-Zeitgeist auch deshalb so stimmig wieder aufleben, weil er seine Widersprüche nicht außen vor lässt.

Es gibt eine Liebesgeschichte, reichlich Fakten zur Entstehung der Songs von The Band und auch ein paar historische Eckdaten: einen LSD-Trip im Kino, während Die Reifeprüfung läuft, oder die Reaktion der Woodstock-Community auf die Ermordung von Martin Luther King („Keine Frage, das Land drehte kollektiv durch. Chicago, Memphis, L.A. – alles stand in Flammen. Und wenn man sich dann vom Fernseher löste und nach draußen blickte, sah man nichts als Bäume und Himmel. Alles, was man hörte, war vielleicht jemand, der sein Kaminholz schlug. Die ganze Sache war völlig unwirklich.“)

Für die Musikwelt war Music From Big Pink der Beweis, wie gut sich Rock, Folk, Soul, RnB und Country vereinen ließen. Für The Band war die Platte der Durchbruch, bevor sie sich 1977 nach reichlich Drogeneskapaden, Unfällen, Streitereien, ermüdenden Tourneen und sinkenden Verkaufszahlen trennten. Für John Niven war Music From Big Pink (als #28 in der „33 1/3“-Reihe erschienen) die Erkenntnis, dass er als Autor eine lange Form beherrscht. Drei Jahre später ließ er – ermutigt von dieser Erfahrung – Kill Your Friends folgen, das ihm den ersten großen Erfolg brachte. Seine Karriere währt damit schon deutlich länger als die von The Band. Dass sie in der Liebe zur Musik verwurzelt ist und vor allem durch die höchst gekonnte Kombination aus Recherche und Fantasie möglich geworden ist, könnte nirgends klarer werden als in diesem Debüt.

Das beste Zitat beschreibt den Moment, als Greg zum ersten Mal den Song hört, den wir heute als Bessie Smith kennen: „Er klang anders als alles, was ich je zuvor gehört hatte, und gleichzeitig, als wäre die Aufnahme Ewigkeiten verschüttet gewesen und eben wieder der Erde entrissen worden. Sie war irgendwie matschig und holprig abgemischt, die Vocals klangen etwas dumpf, aber man verstand genug vom Text. Und als ich hörte, wie Rick ‚The best thing I ever had‘ sang, schloss ich die Augen und spürte das Kräuseln und Kribbeln der Gänsehaut an jenen Stellen, an denen ich es nur bei Musik fühlte, die so gut war.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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