Künstler | Julia Holter | |
Album | Aviary | |
Label | Domino | |
Erscheinungsjahr | 2018 | |
Bewertung |
Ein paar schlimme Assoziationen weckt die Musik von Julia Holter. Auf ihrem heute erscheinenden fünften Album Aviary gilt das vielleicht mehr denn je. Dazu gehört die Idee, eine „richtige“ Musikerin sei man nur, wenn man Noten lesen kann und ein Konservatorium besucht hat. Auch das Konzept, Pop brauche so viele „seriösen“ Elemente wie möglich, um relevant zu sein, muss da genannt werden. Nicht zuletzt der Verdacht: Du musst so gut aussehen wie Julia Holter, um den Crossover zwischen diesen beiden Welten, zwischen U und E, zu meistern.
Die 33-jährige aus Los Angeles wird von der deutschen Wikipedia als “Indie-Electronic”-Interpretin geführt, doch von Acts, an die man bei diesem Genre vielleicht denkt (nehmen wir: La Roux, Ladytron, The Knife), sind ebenso wenig vergleichbar wie die Wegbegleiterinnen, die mit “Art Pop”, “Baroque Pop” oder “Ambient” verbunden sind, was die Charakterisierungen dieses Sounds sind, den die englische Wikipedia nennt. Was Julia Holter auf Aviary liefert, hat vielmehr Wurzeln in der klassischen Musik, wie nicht zuletzt der Referenzrahmen zeigt, den sie hier spannt: Es gibt Verweise auf Puschkin und Dante, Troubadoure und Mönche, Antike und Mittelalter. So etwas freut das Feuilleton, wo sie ohnehin längst angekommen ist: Sie hat die Musik für Carl Theodor Dreyers The Passion of Joan of Arc komponiert und ihr Album Tragedy als Opern-Adaption umgesetzt. Was sie nun im Sinne hatte, war „die Kakophonie des Geistes in einer zerfließenden Welt“ zu vertonen, wie sie sagt.
Das Bild, das sie dafür wählt, ist das einer Voliere. Auf die Idee kam sie bei der Lektüre einer Kurzgeschichte von Etel Adnan: “I found myself in an aviary full of shrieking birds”, las Julia Holter dort – und erkannte darin eine Metapher für das Leben anno 2018. “Zwischen all dem inneren und äußeren Geplapper, das wir jeden Tag erleben, wird es immer schwieriger, seine Basis zu finden. Das Album reflektiert diesen Eindruck von Vielstimmigkeit und wie man darauf reagiert – wie man sich verhält, wie man nach Liebe und Trost sucht. Vielleicht geht es darum, dem vermeintlichen Wahnsinn zuzuhören, ihn zu sammeln, daraus etwas zu gestalten und so eine Zukunftsvision zu entwickeln”, erklärt sie.
Turn The Light On ist der ideale Auftakt, um diesen Ansatz zu vermitteln: Man hört zuerst ein Klanggewirr, aus dem sich ihre Stimme dann heraus zu kämpfen versucht. Es klingt, als habe man Björk erst gefesselt, dann getriezt und dann in einen Orchestergraben geworfen. Das folgende Whether setzt auf einen sehr kräftigen Beat, eine ebenso plakative Orgel und eine stark mit Effekten bearbeitete Stimme, die einen fast assoziativen Text singt. Auch dieser Eindruck kommt nicht von ungefähr: Der Ursprung der Lieder auf Aviary, produziert von Cole MGN und Kenny Gilmore, waren oft “kathartische Solo-Improvisationen”, wie Julia Holter sagt, die sie über das Jahr 2017 hinweg zuhause aufgenommen hat, meist nur mit Stimme und Synthesizer. Sie wollte dabei unbedingt offen sein für Dinge, die unbewusst geschahen. “Ich habe absichtlich versucht, mich einfach zu amüsieren und eine herausfordernde Platte zu machen. Ich fühlte mich dann stark angesprochen von Sachen, die während des Improvisierens einfach passiert sind, zufällige Laute und Lücken.”
In Gardens‘ Muteness ist vielleicht der Moment der Platte, der diese Form am meisten bewahrt hat, es gibt nur Klavier und Gesang, doch allein die Stimme, später auch das fast schrille Klavier verweigern sich einer Assoziation wie „vertraut“ oder gar „hübsch“. Everyday Is An Emergency wirkt, als würde sie am Klavier halluzinieren, in Underneath The Moon wird der Rhythmus durch reichlich Percussions (von Corey Fogel) fast gleichrangig mit der Melodie, ohne dass die Struktur dadurch konventioneller würde. Colligere hat Freude an Lautmalerei und dann auch an pentatonischen Tonleitern. Why Sad Song, der Abschluss von Aviary, ist die englische Übersetzung eines Lieds, das der nepalesische Buddhist Choying Drolma geschrieben hat, mit einem schwer betrübten Klavier und einer noch traurigeren Trompete (von Sarah Belle Reid).
In einigen Passagen dieser 90 Minuten kann man bei all diesen exotischen Elementen freilich doch Spuren von Pop entdecken. I Shall Love 2 kommt nahe dran: „I am in love / what can I do“, lauten die ersten Zeilen, später wird ein Fragment aus Dantes Inferno zitiert und in einigen Momenten ist das kurz davor, ein normaler Popsong, ein Stück von The Velvet Underground oder komplett wahnsinnig zu werden. Das reduzierte I Would Rather See ist beinahe straight in seiner Trauer. Les Jeux To You ist einer der wenigen Tracks, die von Anfang an einen Beat haben, zudem einige Dream-Pop-Effekte. Als man gerade anfängt, „Kate Bush“ zu denken, setzt ein Teil mit einer Aufzählung ein, der fast Ausgelassenheit im Stile von Kate Nash vermuten lässt.
So weit Instrumente und Kompositionen auch vom konventionellen Pop-Kosmos entfernt sind, so vertraut ist doch die Stimmung, die viele der Lieder auf Aviary hervorrufen. Another Dream ist unbestritten innovativ und ungewöhnlich, vor allem aber magisch. Voce Simul wird nicht nur faszinierend, sondern bewegend. In Words I Heard sind die Streicher (Dina Maccabee und Andrew Tholl) voller Schmerz, der Bass (Devin Hoff) scheint trösten zu wollen, die Stimme ist dazwischen gefangen, mal verloren in Erinnerung, mal hoffnungsvoll.
I Shall Love 1 klingt mit seinem Chor wie eine mittelalterliche Prozession, auch wenn hier nicht so sehr Frömmigkeit zur Schau gestellt wird, sondern eher der unbedingte Wille, den eigenen Gefühlen zu folgen, so verwirrend sie auch sein mögen. “Wenn ich Liebe erwähne, dann ist damit in vielen Liedern die Suche nach Mitgefühl und Menschlichkeit in einer Welt gemeint, in der Empathie immer stärker bedroht ist”, sagt Julia Holter.
Das mehr als 8 Minuten lange Chaitius bringt das Konzept des Albums am besten auf den Punkt. Der fast instrumentale erste Teil ist quasi Klassik, dann gibt es die zerstückelte Stimme von Julia Holter, zudem einen Text von fast babylonischem Sprachgewirr (der Text enthält Elemente des Lieds Can vie lauzeta mover von Bernart de Ventadorn), sodass das Gesagte kaum mehr bleibt als Laute jenseits einer Bedeutung. Das ist eindeutig nicht Pop, auch nicht Barock oder Electronic. Aber es ist Musik, in der viel Können und Talent steckt, ebenso wie Mut und Intelligenz.