Künstler | Julia Holter | |
Album | Have You In My Wilderness | |
Label | Domino | |
Erscheinungsjahr | 2015 | |
Bewertung |
Beim Begriff „Punk“ denkt man gerne an Lärm, Dreck und Provokation. Nichts an Have You In My Wilderness passt zu diesen Assoziationen, und dennoch könnte man das vierte Album von Julia Holter in gewisser Weise als ihre Punk-Platte interpretieren.
Das mit Produzent Cole Marsden Greif-Neill aufgenommene Werk ist unmittelbarer und persönlicher („Es ist in den Texten intimer, aber auch in der Art, wie ich singe“, bestätigt Julia Holter), war vor allem aber auch in der Entstehungsweise viel direkter als die Vorgänger. Vom Feuilleton wurde sie da nicht nur für ihre Stimme und Kompositionen gelobt, sondern vor allem für das Integrieren literarischer Vorbilder in ihre Musik. Das Debüt Tragedy (2011) hatte seinen Ausgangspunkt beim antiken Schriftsteller Euripides, bei den folgenden Ekstasis (2012) und Loud City Song (2013) gab es ebenfalls reichlich literarische Bezüge. Für Have You In My Wilderness hat Julia Holter auf dieses Erfolgsrezept verzichtet. Die wichtigste Inspiration findet sie hier nicht in Büchern, sondern in ihrem Innenleben.
„Ich habe diesmal nicht so viel Wert auf dramatische Ideen und ein verbindendes Narrativ gelegt, sondern angefangen, ein paar Lieder direkt aus meinem Herzen zu schreiben. Warm, dunkel und roh. Ich habe einfach Klavier gespielt, intuitiv und spontan, und sie kamen heraus, ohne vorbereitetes Konzept“, sagt die beim Erscheinen der Platte 30-Jährige aus Los Angeles. „Die meisten Texte sind surreal und entstammen einem Stream of consciousness. Manchmal war ich selbst von den Bildern überrascht, die dabei entstanden sind. Manchmal war es auch genau das, was ich zu der Zeit eben empfunden habe.“
Feel You heißt bezeichnenderweise das erste Lied. Es zeigt indes auch sofort, dass man „intuitiv“ hier nicht mit „einfach“ verwechseln sollte. Auch auf Have You In My Wilderness ist Julia Holter manchmal näher an E-Musik als an Pop, alles klingt maximal elegant und unverkennbar ausgefeilt, wie der komplexe Rhythmus und die sehr originelle Melodie beweisen. Spätestens beim Refrain dieses Lieds ist man, natürlich auch durch das malerisch schöne Orchesterarrangement, in einer ganz eigenen musikalischen Welt gelandet, einem Märchenwald voller entzückender Überraschungen und düsterer Ahnungen.
Auch im folgenden Silhouette ist die Bedeutung des Rhythmus deutlich, obwohl jeder Schlag auf eine Trommel für sich betrachtet hier bloß wie vorläufig und angedeutet wirkt. Man erkennt: Dieser Beat ist nicht einfach unter den Rest der Musik gelegt, sondern von Anfang an mitgedacht, als integraler Bestandteil der Komposition. Das Ende ist so betörend, dass man glauben könnte, das Lied ende gerade noch rechtzeitig vor dem Moment, in dem dieser Klang eine so große Kraft entwickelt, dass man nie mehr herausgelangen könnte.
Bei aller Freude an der Spontaneität legt Julia Holter natürlich auch hier höchsten Wert auf Meisterschaft. Dies ist Musik, der man anhören darf, wie viel Denkarbeit darin steckt, ohne dass sie deshalb ihren emotionalen Kern verwässert. Ihre diesmal gewählte Arbeitsweise „fühlte sich fast an, als würde man wie ein Automat schreiben“, sagt die Künstlerin. „Dann begann allerdings die monatelange Arbeit, um dieses Rohmaterial in etwas zu gießen, was ein paar weitere Dimensionen hat. Ich wollte die ursprüngliche Bildwelt nehmen und sie weiterentwickeln zu etwas, das mich reizte. Es ist leicht, eine sentimentale Ballade zu beginnen. Aber es ist schwierig, sie auch zu Ende zu bringen.“
Der Night Song ist solch eine Ballade, und es ist atemberaubend, was Julia Holter daraus macht. Sie zeigt sich verletzlich, aber nicht darauf aus, sich in dieses Gefühl zu ergeben, sondern an einer Analyse interessiert. Deren Ergebnis lautet: Gefallenwollen ist manchmal der schlechteste Ansatz, um wirklich zu gefallen. „What did I do to make you feel so bad? / What did I do that you would make me feel so bad?“, heißen die letzten beiden Verse, und rührendere Zeilen wird man in seinem Leben kaum zu hören bekommen.
Das erste Geräusch von Lucette Stranded On The Island klingt wie die Takelage eines Segelschiffs, die im Wind klappert, auch danach bleibt das Stück sehr bildstark, während Klavier, Streicher und der Chor dafür sorgen, dass sie in diesem Gestrandetsein noch ziemlich würdevoll wirkt. Sea Calls Me Home wird vergleichsweise straight. Das brüchige, amateurhafte Pfeifen will (vielleicht als Überbleibsel aus der Entstehungsphase des Lieds) so gar nicht in dieses kultivierte Klanggemälde passen, dann springt ihm aber ein freigeistiges Saxofon zur Seite und alles macht Sinn.
Laurie Anderson ist auch bei diesem Album ein naheliegender Bezugspunkt. Das abstrakte Betsy On The Roof lässt mit seiner Ernsthaftigkeit und etwas Theatralik ein wenig an die Dresden Dolls denken und hat gegen Ende, als es nach einem Beginn nur mit Klavier und Gesang längst opulent im Sound geworden ist, auch kein Problem damit, anstrengend zu sein. Bei Vasquez könnte man es sich einfach machen und „Jazz“ dazu sagen, aber vielmehr wird hier ein rundes halbes Dutzend an Genres integriert. Der ausgelassene Beat und das kraftvolle Klavier von Everytime Boots würden auch zu Kate Nash passen, obwohl dieses Lied zwischendurch auch einmal schwelgerisch werden darf. „Oh, every time I do put on boots / I feel the charge / like I’ve a good thing to run to / but I only hear the rattlesnake winds / they blow dust and I’m helpless to fight back“, singt Julia Holter darin.
„In gewisser Weise ist das Album ziemlich gespenstisch. Es fühlt sich permanent an, als seien die Dinge nicht so wie sie erscheinen“, sagt sie passend zu diesen Zeilen. In der Tat scheint es auf Have You In My Wilderness immer wieder Personen zu geben, die körperlich abwesend sind, aber in ihrem Geist sehr präsent, die sich womöglich gerade annähern oder entfernen, vielleicht aber auch bloß Einbildung bleiben.
Im Titelsong wird dieser Effekt am deutlichsten, auch im Klang. Der Text von Have You In My Wilderness ist eindeutig auf Englisch verfasst (und sehr poetisch), aber er könnte auch in Isländisch, Kisuaheli oder einer Fantasiesprache formuliert sein, denn die Wörter verlieren (nicht nur in diesem Lied) beinahe ihre Semantik durch die Kraft der Musik, zu der sie zugleich beitragen. How Long ist das Lied, das atmosphärisch am besten gelungen ist. Die Erzählerin ist alleine in einer fremden Stadt, aber aus dieser Situation entsteht kaum Nervenkitzel, sondern vielmehr Trübsal, Verlorensein, Betäubung. Auch hier sind Ramones, Sex Pistols oder Buzzcocks natürlich ästhetisch weit weg, aber dafür wird eine andere Parallele erkennbar, die zur Interpretation dieses Werks als Punk-Entsprechung von Julia Holters Musik passt: Die Quelle dieser Lieder ist der Schmerz.