Künstler*in | Justice | |
Album | Hyperdrama | |
Label | Ed Banger | |
Erscheinungsjahr | 2024 | |
Bewertung | Foto oben: (C) Check Your Head / Julia & Vincent |
Disco – das klingt nach Glamour und Hedonismus, nach Flirt und Ausgelassenheit. Es ist aber auch ziemlich spektakulär, was bei der dort zu hörenden Musik – also in der Regel bei Klängen mit einem einfachen, recht monotonen Beat – in unserem Gehirn passiert. Wenn ein Rhythmus vorhersehbar ist wie beim klassischen Four-to-the-floor in der Disco, erkennt unser Hirn dieses Muster und die Neuronen beginnen, ebenfalls im gleichen Rhythmus zu feuern. Der Neurowissenschaftler Daniel J. Levitin erklärt das damit, dass neuronale Verschaltungen in den Basalganglien (diese Regelkreise im Hirn sind für Gewohnheit und motorische Selektion zuständig) ebenso wie Areale des Kleinhirns, die mit den Basalganglien verbunden sind, nach und nach von der Musik geschult werden. „Das wiederum kann zu Veränderungen im Gehirnwellenmuster führen, mit der Wirkung, dass wir in veränderte Bewusstseinszustände gleiten, die der Phase des Einschlafens oder der Parallelwelt zwischen Schlaf und Wachen ähnlich sind oder sogar einem rauschartigen Zustand erhöhter Konzentration mit gleichzeitig vertiefter muskulärer Entspannung und dem Verlust der Wahrnehmung von Zeit und Ort“, schreibt er.
Es ist also recht simpel zu erklären, warum die Disco ein so beliebter Ort ist: Auch ganz ohne die dort in der Regel ja auch problemlos verfügbaren Rauschmittel versetzt sie uns in eine ganz besondere, erhebende Stimmung. Zugleich machen die oben erwähnten Forschungsergebnisse es noch schwieriger, die magische Wirkung von Justice zu erklären. Denn der von Levitin beschriebene Effekt tritt bei jeder Art von Musik mit monotonem Beat auf, theorerisch also auch bei Polka, Marsch oder Doom Metal. Trotzdem schaffen es Xavier de Rosnay und Gaspard Augé erstens, ihrer Tanzmusik einen sehr individuellen Touch und ein hohes Maß an Wiedererkennbarkeit zu verleihen. Zweitens liefern die beiden Franzosen auch auf Hyperdrama, ihrem heute erscheinenden vierten Album, wieder Beats, die letztlich eben nicht berechenbar sind, sondern gebrochen, überraschend, verwirrend – ohne dass darunter die Tanzbarkeit ihres Sounds leiden würde.
Man könnte spekulieren, die beiden Frickler hätten irgendein Gerät entwickelt, mit dem sich eine ganz bestimmte Bass-Frequenz oder eine sonst nirgends zu findende Modulation erzeugen lässt (zuzutrauen wäre es ihnen), was dafür sorgt, dass ein Justice-Track eben immer unverkennbar nach Justice klingt. Hyperdrama zeigt aber erneut, dass ihr Markenzeichen vielmehr im Wandel ihres Klangspektrums liegt. „Es ist, als hätten wir diesen kleinen Knopf auf unserer Konsole, um von einer Klanglandschaft zur nächsten zu wechseln. Es ist immer noch die gleiche Musik, aber in einem anderen Licht“, erklärt Gaspard Augé das sehr treffend.
Für den Nachfolger des 2016 veröffentlichten Woman haben sie zwei Schwerpunkte als zentral vorgegeben: Disco („Wir wollten schon immer unsere eigenen Sample-fertigen Songs kreieren, so etwas wie die Idee des magischen Loops und der Filter-Disco, aber mit Kontrolle über jedes Element, das den Loop ausmacht“) und harten Techno („Wir lieben es, diese Genres in unsere Sets einzubauen, sie sind so rein und kantig“). Grob geschätzt lassen sich etwa die Hälfte der 13 Tracks dem einen, die andere Hälfte dem anderen Genre zuordnen, im Prinzip verwandelt sich jedes Stück aber so häufig, dass eine klare Verortung meist scheitern muss.
Incognito zeigt das sehr typisch: Der erste Teil hätte auf den Virgin Suicides-Soundtrack von Air gepasst. Dann fangen Justice an, ihre Knöpfchen zu drücken und scheinen zu starten in eine Zeitreise voller großer Gesten durch die vergangenen 50 Jahre tanzbarer Musik. Der Album-Schlusspunkt The End (starring Thundercat) beginnt im Darkroom, hält zwischendurch im siebten Himmel, schaut auf einer Yacht vorbei und besucht die Welt, in der Super Mario lebt. Auch die Single One Night/All Night (starring Tame Impala) zeigt diese Qualität: Alle zehn Sekunden gibt es eine Veränderung und Überraschung, fundierend auf einem Bass wie aus dem Old-School-Rap (also eigentlich wie aus dem Seventies-Funk), einer Helium-Stimme, einem Kinderzimmer-House-Klavier und Weltall-Synthies.
„Wir wollen mit unserer Musik immer dorthin gehen, wo wir noch nie zuvor waren. Das ist ein wichtiger Teil, um eine gesunde Rivalität zwischen uns zu entfachen und die Dinge spaßig zu gestalten“, sagt Gaspard Augé. Diese Credo führt auf Hyperdrama immer wieder auch zu reizvollen Widersprüchen und Reibungen. Der Auftakt Neverender (wieder mit Tame Impala) vereint Bumms und Verspieltheit, zusätzlich scheinen ein paar Töne von Stardust aus dem Jahr 1998 herüberzuwehen. Generator beweist, dass Härte und Groove sehr wohl vereinbar sind, wieder einmal glänzen Justice hier mit dem sehr cleveren Spiel mit Filtern, dazu packen sie ein paar cineastisch-geheimnisvolle Streicher.
Afterimage (starring Rimon) ist recht düster in der Grundstimmung, vor allem der gehauchte Gesang bringt aber auch Eleganz hinein. Explorer (starring Connan Mockasin) bremst das Tempo, erzeugt aber genauso viel Spannung und Energie wie der Rest des Albums. Muscle Memory hat eine klasse Dramaturgie und Atmosphäre, nicht zum ersten Mal offenbart das Duo hier zudem seine Vorliebe für Melodien, die an Horrorfilm-Klassiker erinnern.
In Mannequin Love klingen Justice auch 17 Jahre nach ihrem Debütalbum † immer noch wie die Zukunft, obwohl das alles so offenkundig von den exzellenten Kenntnissen der Vergangenheit geprägt ist. Saturnine (starring Miguel) ist vielleicht das heimliche Highlight der Platte und zugleich ein Prototyp für den Sound dieser Band: Es ist unwiderstehlich für Menschen, die sich gerne den Kopf über Samples, Soundeffekte und analoge Studiotechnik zerbrechen. Es ist unwiderstehlich aber auch für Menschen, die einfach zu intelligenter Musik tanzen wollen.