Künstler*in | Kettcar | |
Album | Gute Laune ungerecht verteilt | |
Label | Grand Hotel van Cleef | |
Erscheinungsjahr | 2024 | |
Bewertung | Foto oben: (C) Fleet Union / Andreas Hornoff |
Gute Laune ungerecht verteilt enthält zwölf Lieder, vier davon wurden als Single vorab ausgekoppelt. Zusammengenommen sind das ziemlich genau 45 Minuten Kettcar. Vielleicht wird die Platte, wenn Ende der Woche die neuen Charts erscheinen, das erste Nummer-1-Album in der Geschichte der Band aus Hamburg werden.
Doch das sind keineswegs die erstaunlichsten Zahlen rund um dieses Werk. Viel überraschender: Gute Laune ungerecht verteilt ist erst das sechste Studioalbum des 2001 gegründeten Quintetts. Und es enthält ihre erste neue Musik seit Ich vs. Wir, das nun auch schon sieben Jahre her ist. Beides ist irgendwie ein Schock: Kettcar erscheinen wie eine Institution, die schon immer da war, und deren Oeuvre viel mehr umfasst als gerade einmal 69 Albumtracks. Und sie wirken wie eine Band, die man in den Jahren seit 2017 dringend gebraucht hätte, in Zeiten von Krieg, Pandemie und Rechtsruck.
All das wird noch klarer, wenn man das von Simon Frontzek, Rudi Maier, Philipp Schwär und Philipp Steinke produzierte neue Album hört. „Diese Platte hat die Kraft zu fragen, wie man heute noch Hoffnung, gar Utopien bewahren kann“, schreibt Linus Volkmann treffend im Pressetext. Die fast noch größere Leistung ist dabei, dass Kettcar hier nicht eine einzige Sekunde lang einen Zweifel an ihrer eigenen Relevanz aufkommen lassen und zugleich kein bisschen weise im Sinne von Besserwissern wirken. Marcus Wiebusch (Gesang, Gitarre), Reimer Bustorff (Bass), Erik Langer (Gitarre), Christian Hake (Schlagzeug) und Lars Wiebusch (Keyboard) stellen den Zustand der Welt infrage, ebenso wie sich selbst und ihre Fähigkeit, all das nicht nur zu ertragen, sondern vielleicht auch noch ein bisschen positiven Impact haben zu können.
Das wird schon zum Auftakt deutlich, nicht nur im Songtitel Auch für mich 6. Stunde. Das Lied behandelt den allgemeinen Overkill, zu dem man letztlich natürlich auch selbst dazugehört mit einem so albernen Beruf wie Rockstar. Der Sound findet dafür eine wunderbare Entsprechung mit viel Dringlichkeit und Ungeduld: Der Fuß kann dazu kaum still halten, und der Kopf schon gar nicht.
Das steigert sich im folgenden München zu so etwas wie Post Punk: Der Song mit Chris Hell von Fjørt als Gastsänger ist wild, ruppig, abstrakt – und der beste Beweis, dass man von Alltagsrassismus nicht selbst betroffen sein muss, um darüber wütend zu werden. Eine ähnliche Frische hat Blaue Lagune, 21:45 Uhr, das von den Jugendsünden der Unterprivilegierten erzählt („Du weißt, wo wir herkommen, kommen andere nur hin, um vom Dach zu springen“), inhaltlich gar nicht so weit weg von Caspers Falsche Zeit, falscher Ort.
Kanye in Bayreuth ist im Sound tatsächlich Rap und stellt im Text die Frage, ob Kunst gut sein kann, die von schlechten Menschen gemacht wurde: Darf man sie noch mögen, wenn der Schöpfer sich unmöglich gemacht hat? Die Strophe von Doug & Florence könnte auf Becks Odelay passen, der Refrain ist einer der seltenen Momente, in denen Marcus Wiebusch die Silben mal etwas länger zieht als es in der gesprochenen Sprache üblich wäre – der Effekt ist sofort hymnisch, bevor sich das Stück gegen Ende sogar in Richtung eines George-Martin-Arrangements bewegt.
Elternsein hört auch dann nicht auf, wenn man die Kinder bei Oma parkt, zeigt das (tatsächlich tanzbare) Rügen, als Plädoyer für einen achtsamen Umgang mit Mental Health erweist sich Bringt mich zu eurem Anführer, das akustische, unschuldige und ursprünglich Zurück wird der beste Beweis, dass es bei Kettcar durchaus so etwas wie schöne Melodien gibt. Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen kreist um eine sehr schöne Gitarrenfigur, Einkaufen in Zeiten des Krieges macht den Supermarkt zum Mikrokosmos voller First World Problems und zeigt am besten die Lust auf Plakatives und Rätsel, die Gute Laune ungerecht verteilt prägt.
Was wir sehen wollten weiß: Es gibt Krankheit und Siechtum, aber es gibt nicht nur (vielleicht) Hoffnung, sondern auch Schönheit, wenn man sie denn erkennen will. Ein Highlight wird der Album-Abschluss Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter), dessen Ansatz mit dem Update von Danger Dans Privater Altersvorsorge oder Mein junges Ich von Fatoni vergleichbar ist. Das Lied ist schlau, aber an den richtigen Momenten auch noch ratlos. Es ist deep, aber an den richtigen Stellen auch hübsch augenzwinkernd. Es ist philosophisch, aber auch im notwendigen Maße geerdet. Es ist Kettcar.