Künstler | Kettcar | |
Album | Ich vs. Wir | |
Label | Grand Hotel van Cleef | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
„Es ist einer dieser Zyankali-Tage / an denen wir uns wieder mal umbringen wollten“, lautet die erste Zeile von Ich vs. Wir. Kann ein Album noch besser werden, das schon so gut beginnt? Die Antwort lautet: ja. Denn hier sind Kettcar am Werk, mit frischem Schwung und tatsächlich so gut wie nie.
Ankunftshalle heißt der betreffende Song, er erzählt aus der Perspektive von zwei Menschen mit einem seltsamen Hobby: Sie beobachten am Flughafen die Wiedersehensfreude der Ankommenden. Sie wollen Menschlichkeit, Herzlichkeit und Wärme erleben, wenigstens als Zuschauer. Damit ist das wichtigste Thema des fünften Kettcar-Albums schon benannt: Es geht um Humanität und um die Frage, warum sie derzeit so gefährdet ist.
Der Vorab-Song Sommer 89 verweist darauf durch einen Vergleich von Flüchtlingsträumen damals und heute, das fühlt sich fast an wie ein Roman oder ein Spielfilm. Mannschaftsaufstellung spielt mit Metaphern aus Fußball und Patriotismus, glücklicherweise nicht zu explizit. Die Straßen unseres Viertels fragt, ob wir wirklich die richtigen Prioritäten setzen. Das wundervolle Trostbrücke Süd macht aus einer banalen Situation (einer Fahrt im Bus) einen großartigen Song, schon bevor am Ende ein Chor (!) feststellt: „Wenn du das Radio ausmachst / wird die Scheißmusik auch nicht besser.“
Einer von vier Kumpels erlebt in Benzin und Kartoffelchips seinen letzten Abend in Freiheit, bevor er in den Knast muss, das Ergebnis klingt mit seiner überbordenden Loyalität und nicht zu leugnenden Verzweiflung, als sei Clemens Meyer unter die Songwriter gegangen. Der Quasi-Titelsong Wagenburg blickt auf das Ich und das Wir und attestiert, dass keines von beiden per se gut oder per se gefährlich ist – es geht um den Charakter des Ich, denn „Jedes Wir sind viele Ichs.“
Diese Feststellung gilt natürlich auch für Kettcar selbst, und die Balance innerhalb der Band wurde nach der selbst verordneten Pause seit 2013 offensichtlich neu justiert. Neben Frontmann Marcus Wiebusch, der die Kettcar-Auszeit unter anderem für eine Soloplatte genutzt hatte, sind auch Bassist Reimer Bustorff und Gitarrist Erik Langer wieder stärker im Songwriting involviert. Dass alle Bandmitglieder (wieder) große Lust aufs gemeinsame Musizieren haben, ist auf Ich vs. Wir unverkennbar, etwa im eingängigen Auf den billigen Plätzen, dessen Optimismus fast an die Shout Out Louds denken lässt, oder in Mit der Stimme eines Irren, das mit sehr viel Drive feststellt, dass Grenzen manchmal auch bloß Linien sein können.
Das Beste an dieser Platte ist nicht, dass Kettcar hier eine klare Haltung beziehen und dabei so deutlich wie nie machen, wofür sie (ein)stehen und gegen was sich ihre Opposition richtet. Das Beste ist, dass sie dabei keinerlei Selbstgerechtigkeit zeigen, sondern deutlich machen, dass sie selbst ebenfalls vor Widersprüchen stehen, mit dem Gefühl von Ohnmacht zu kämpfen haben, die Ambivalenz mancher Dinge einfach auch einmal zur Kenntnis nehmen müssen. Das Gegenteil von Angst ist ein Beispiel für diese Besonderheit: Marcus Wiebusch steht als Erzähler nicht über den Dingen, sondern er ist beteiligt, sogar fehlbar. Nicht zu wissen, ob man wirklich Recht hat, ob man wirklich in der Überzahl ist – aus dieser Position können hier auch Toleranz und Geduld erwachsen, was nicht die schlechtesten Tugenden für unsere Zeiten sind.
Der Rückzug ist dabei keine Option, viel eher propagieren Kettcar hier die strenge Prüfung des eigenen Ethos. Denn die Frage, ob eine Masse zur konstruktiven Bewegung oder zum destruktiven Mob wird, fängt natürlich beim Individuum an. Man darf ein Hippie sein, jedenfalls lieber als ein Ignorant oder Zyniker, heißt deshalb die Botschaft im Schlusspunkt Den Revolver entsichern. „Keine einfachen Lösungen zu haben, ist keine Schwäche“, heißt es da. Es ist die klügste Zeile dieses sehr klugen Albums.