Mitleid mit dem geheimen Headliner hat man beim Kosmonaut-Festival 2018 schon kurz vor 21 Uhr. Da stehen noch Feine Sahne Fischfilet auf der Hauptbühne und legen eine Show hin, die extrem schwer zu toppen sein dürfte, egal von wem.
Schon bei Alles auf Rausch, dem zweiten Lied ihres Auftritts, haben sie den Laden im Griff. Noch ein paar Minuten später riecht es am Stausee Rabenstein wie zu Silvester, so viel Pyro ist auf der Bühne und im Publikum im Einsatz. Später kommt die obligatorische Banane als Hilfsmittel zum Crowdsurfing zum Einsatz, bei Wasted in Jarmen trumpfen Feine Sahne Fischfilet dann mit einem riesigen Fass mit Pfeffi und gleich drei Anschlüssen auf, aus denen Schläuche direkt ins Publikum verlegt werden.
Dass all das so unfassbar hart gefeiert wird (mit der Ankündigung „Jetzt ist hier Abriss“, bringt es Sänger Monchi sehr treffend auf den Punkt), liegt natürlich nicht nur an der Musik. Feine Sahne Fischfilet sind schon zum dritten Mal beim Kosmonaut, haben sich also auch bei diesem Publikum einen Ruf als Party-Garanten erarbeitet. Man merkt der Band zudem sehr genau an, wie sehr sie diesen Gig selbst genießt („Wenn uns Kraftklub einladen und wir das sehen, dann kriege ich steife Nippel, Alter!“, schwärmt Monchi). Und nicht zuletzt passt eine Bandbiographie, die sich zu einem sehr entscheidenden Teil aus dem Widerstand gegen Nazis inmitten der Provinz speist, natürlich wunderbar zu einem Festival, das auch im sechsten Jahr seines Bestehens deutlich machen will: Es gibt in Sachsen, wo bei der vergangenen Bundestagswahl ein Viertel aller Stimmen auf die AfD entfiel, auch linkes Engagement, es gibt hier Solidarität, Empathie und Weltoffenheit.
Immer noch uns ist das letzte Lied der Jungs aus Meck-Pomm, kurz vor halb elf ist die Vorfreude auf den geheimen Headliner dann beträchtlich. Nicht nur Feine Sahne Fischfilet haben dazu beigetragen, sondern auch bestes Festivalwetter und eine wieder einmal sehr exquisite Auswahl vor allem deutschsprachiger Talente wie Yukno, die das Kosmonaut-Festival 2018 eröffnen, ergänzt um spannende internationale Acts wie Idles oder die Decibelles.
Käptn Peng & die Tentakel von Delphi sind das erste Highlight auf der Hauptbühne. Sie kommen direkt von den Open Air Kasematten in Graz und dem Tollwood in München und beweisen auch in Chemnitz, dass sie große Festivalbühnen längst mühelos füllen können, selbst wenn es hier etwas weniger Requisite gibt als bei ihren eigenen Konzerten. Immerhin: Bei Sockosophie zieht Käptn Peng natürlich einen Strumpf über die Hand, für Sie mögen sich schlüpft er mit Duett-/Duell-Partner Shaban in Kostüme. Die versammelte Menge vor der Bühne dann die Wörter „Pelikan, Peli Peli Peli Peli Pelikan“ mitsingen zu sehen, ist ein ziemlich einmaliges Erlebnis, genau wie die Erkenntnis, wie viele Fans praktisch alle Texte (und das sind bei dieser Band enorm viele Wörter) von allen drei Alben auswendig mitsingen können.
Womit wir wieder beim geheimen Headliner sind. Kraftklub geben sich wie immer die Ehre, dessen Show selbst anzusagen, dann betritt RIN die Bühne – zur allgemeinen Verwunderung. Viele, viele Fans verlassen nach wenigen Minuten enttäuscht das Gelände, nicht wenige fragen sich auch später auf dem Zeltplatz noch: Wer ist das überhaupt? RIN? Nie gehört! Auf Facebook finden sich empörte Kommentare im Stile von „Lachnummer“ und „Schrott“.
Das erste Problem dabei ist, dass RIN (sicherheitshalber steht sein Name noch groß auf dem Backdrop) tatsächlich erst vor neun Monaten sein Debütalbum EROS veröffentlicht hat. Das war mit mehr als 250 Millionen Streams zwar enorm erfolgreich, dazu hat der Mann aus Bietigheim-Bissingen auch bereits Gold- und Platinauszeichnungen vorzuweisen. Aber er ist ein Newcomer und spielt bezüglich Status in einer ganz anderen Liga als die Acts, die das Kosmonaut zuletzt als geheime Headliner aufgeboten hatte, etwa die Beginner, Die Fantastische Vier oder Fettes Brot, die alle auf eine rund 20-jährige Karriere zurückblicken konnten, als sie in Chemnitz zu Überraschungsgästen wurden. Damit haben Kraftklub als Gastgeber die Messlatte verdammt hoch gelegt – und eine Erwartungshaltung aufgebaut. Dass im Wettbüro die meisten Tipps für Die Ärzte als geheimen Headliner eingingen (auf RIN hatten bloß 1,54 Prozent der Besucher gewettet), unterstreicht das.
Das zweite Problem ist, dass Kraftklub die Sache mit der Überraschung besonders streng handhaben. Dass die Show von RIN später noch durch Gastauftritte von Bausa, Cro und Haiyti bereichert wird, hätte man in der Ankündigung wenigstens andeuten können. So haben viele Besucher, die als Nicht-RIN-Fans enttäuscht von dannen zogen (man kann natürlich sagen: „Selbst schuld!“), klar etwas verpasst. Nicht zuletzt die Erfahrung, dass Marteria und Casper sich ebenfalls noch dazugesellen und sogar ein gemeinsames Album ankündigen (1982 wird am 31. August erscheinen), woraus es mit Champion Sound gleich eine Kostprobe gibt.
Auch wenn der Headliner-Slot damit beinahe ein eigenes Mini-Festival ist, endet der Kosmonaut-Freitag somit dennoch mit einer Enttäuschung: Für RIN gibt es die Erkenntnis, dass er sich damit übernommen hat. Viele Besucher gehen (wie gesagt: oft verfrüht) zurück zum Zeltplatz mit dem Gefühl, sich vergeblich einen deutlich prominenteren Headliner versprochen zu haben. Und Cro, Marteria, Casper & Co. haben die Gelegenheit verpasst, für ihre Allstar-Show und ihre durchaus relevanten Neuigkeiten eine optimale Plattform zu finden.
Ganz so schlimm (und ganz so dauerhaft) dürfte der Frust darüber zumindest bei den Fans allerdings ohnehin nicht sein: In einer sehr erhellenden Umfrage unter knapp 2400 Besuchern seines Festivals A Summer’s Tale hat der Konzertveranstalter FKP Scorpio jüngst herausgefunden: Das Line-Up ist für 84 Prozent aller Festivalbesucher zwar der wichtigste Grund für den Kauf eines Tickets, aber schon kurz dahinter folgen weichere Kriterien wie „kulturelles Gesamtkonzept“ (74,4 Prozent) und „malerische Location“ (40,5 Prozent). Von beidem hat das Kosmonaut natürlich auch 2018 reichlich zu bieten. Und morgen kommen ja noch Kraftklub.