Künstler*in | Lee Ranaldo | |
Album | In Virus Times | |
Label | Mute | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Diese Platte erscheint (neben der digitalen Version) als limitierte 12″-Ausgabe auf türkis-transparentem Vinyl. Die vier Songs passen mit einer Spielzeit von 22 Minuten komplett auf die A-Seite, weshalb auf der Rückseite reichlich Platz ist. Lee Ranaldo hat diese Gelegenheit genutzt, um dort nicht etwa weitere Musik zu hinterlassen, sondern eine von ihm gestaltete Radierung. Zudem ist jeder Platte ein von ihm signiertes, nummeriertes Kunstposter beigelegt. Das Cover von In Virus Times hat derweil die brasilianische Fotografin Anna Paula Bogaciovas entworfen.
Das sind wichtige Hinweise für das Verständnis der vier komplett instrumentalen Stücke auf diesem Mini-Album. Denn sie sind am ehesten mit dem zu vergleichen, was man in der bildenden Kunst „abstrakt“ nennt. So wenig wie dabei zu erkennen ist, was das Bild zeigen soll, so wenig liefert Lee Ranaldo hier übliche Rocksongs, nicht einmal für seine (ohnehin sehr freigeistigen) Verhältnisse. Stattdessen könnte man die Platte für eine Meditation über das Leben in Zeiten der Pandemie halten.
„Der Ausgangspunkt dieser Aufnahme war ein Abend im September 2020, als ich in den dunklen Tagen der Covid-19-Pandemie zu Hause in Lower Manhattan festsaß. Wir hatten einen tödlichen Sommer hinter uns. Ein erhöhtes Gefühl der Angst, das von den bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen und dem Virus herrührte, schien alle Aspekte des Lebens zu durchdringen, sowohl bei mir als auch bei allen, die ich kannte“, erzählt Ranaldo, der von Spin einmal zum besten Gitarristen aller Zeiten gekürt wurde (gemeinsam mit seinem Sonic-Youth-Bandkollegen Thurston Moore).
„Der minimalistische Ansatz spiegelt das Gefühl dieser ‚bewegungslosen Zeit‘ wider, das viele von uns empfanden. Die zwanglose häusliche Atmosphäre – eine Sirene oder ein Lastwagen, der durch das Fenster auf die Straße rumpelt; jemand, der sich am Tisch in einem anderen Teil des Dachgeschosses unterhält; fließendes Wasser – dringt an einigen Stellen ein. Ich arbeitete daran, einige einfache thematische Elemente zu entwickeln, aber vor allem wollte ich die Noten und Akkorde hören, die lange Zeit in der Luft hingen an diesem Abend, an dem die Welt kurz davor zu stehen schien, sich nicht länger um die eigene Achse zu drehen.“
So abgehoben und esoterisch das klingen mag, so sehr füllen die vier schlicht durchnummerierten Stücke von In Virus Times dieses Konzept mit Leben. Part 1 eröffnet die Platte mit einer einzelnen Saite einer akustischen Gitarre, die angeschlagen wird, darauf antworten dann ein paar andere Saiten. Ein bisschen klingt es zunächst, als wolle Ranaldo das Instrument erst noch stimmen, dann gibt es die Andeutung einer Melodie, die fast mittelalterlich klingt, ganz am Ende scheint sich ein Folksong mit gepfiffener Melodie daraus zu entwickeln.
Part 2 entwickelt mit Picking, das mit Effekten angereichert wird und etliche Flageolett-Töne integriert, eine hypnotische Wirkung. Part 3 setzt wieder einen einzelnen Ton an den Beginn, Ranaldo scheint dem Instrument dann die Freiheit zu geben, selbst zu entscheiden, wohin sich das Stück von da aus entwickeln soll. Die paar einfachen Töne in Part 4 klingen wie ein Gegenentwurf zum Chaos draußen in der Welt, zu Gefahr und Ungewissheit, dann gewinnen sie nach und nach mehr Gestalt rund um ein zentrales Motiv, zwischendurch ist auch das ganz leise Summen einer menschlichen Stimme zu hören.
Natürlich würde sich kaum jemand für diese sehr spartanischen Stücke interessieren, wenn die Gitarre darin nicht von Lee Ranaldo gespielt würde. Aber es würde sich auch kaum jemand für Farbflächen auf einer Leinwand interessieren, wenn die nicht Piet Mondrian gemalt hätte. Und nicht zuletzt spricht aus In Virus Times die nach wie vor hörbare Neugier dieses 64-jährigen Musikers auf alles, was man aus einer Gitarre noch an Klängen herausholen kann.