Künstler*in | Leoniden | |
Album | Complex Happenings Reduced To A Simple Design | |
Label | Two Peace Signs | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Irgendetwas ist explodiert. Nach Leoniden (2017) und dem Nachfolger Again (2018) heißt das dritte Album von Jakob Amr, Jan-Phillip Neumann, Djamin Izadi, Felix Eicke und Lennart Eicke nun Complex Happenings Reduced To A Simple Design. Ursprünglich sollte es auch wieder einen Ein-Wort-Titel haben (nämlich Looping), aber den neuen Namen fand die Band aus Kiel dann besser, weil er sowohl beschreibt, wie Liebe funktioniert, als auch die Wirkungsweise eines Popsongs auf den Punkt bringt. Nach zuvor 12 beziehungsweise 10 Tracks gibt es auf dem dritten Album der Leoniden nun 21 Stücke, einschließlich fünf Skits, die vergleichsweise experimentell die Klangwelten von elektronisch über tropisch bis ultrahart verbinden. Die Zahl der Wörter im Albumtitel hat sich also versiebenfacht, die Zahl der Songs ist doppelt so hoch wie bisher und die Spielzeit ist knapp 50 Prozent länger als der Durchschnitt der beiden bisherigen Platten.
Diese erstaunlichen Werte haben einen einfachen Grund: Explodiert ist (noch einmal) die Kreativität dieser fünf Musiker. Leoniden waren hinsichtlich ihres Ethos und Outputs schon zuvor eine Ausnahmeband, aber hier legen sie noch einmal eine Schippe drauf, auch wenn ursprünglich gar kein so umfangreiches Werk geplant war. „Wir hatten die erste Hälfte schon Ende 2020 fertig, wollten aber zum einen keine Platte rausbringen, ohne Shows zu spielen, und hatten zum anderen noch ganz viele Ideen. Also haben wir weitergeschrieben und weitergearbeitet, und so ist es ein Doppelalbum geworden“, hat Sänger Jakob Amr im Interview mit Shitesite erzählt.
Schon das Intro der mit Produzent Markus Ganter (Tocotronic, Casper, Annenmaykantereit) und Assistent Magnus Wichmann (Lingua Nada, Pabst) zum Teil in Leipzig entstandenen Platte deutet die Ambitionen auf Complex Happenings Reduced To A Simple Design an und zeigt, dass diese durchaus bis in die Liga von Bohemian Rhapsody reichen. „Markus hatte eine sehr eigene Vorstellung davon, wie die Platte klingen sollte, und wir hatten auch eine konkrete Idee im Kopf. Das ist aufeinandergepralllt und dann haben wir das immer hin und her gespielt. Als Magnus dazu kam, ging das dann sogar im Dreieck. Dieser Prozess hat sich aber eindeutig gelohnt“, sagt Jakob Amr zur Arbeitsweise. In der Tat klingt das Album anders und größer als die beiden Vorgänger und ist mit noch mehr Ideen, Überraschungen und Details vollgepackt.
Weiterhin ist die Musik von Leoniden in der Regel hochgradig tanzbar, sie können heavy as fuck sein und zeigen doch eine hohe Pop-Affinität. Schwung und Kraft dieser Songs stehen hier ganz oft für Schaffensfreude, zugleich haben Leoniden auch kein Problem damit, Schwächen und Sensibilität zu offenbaren. Aus den Texten auf Complex Happenings Reduced To A Simple Design spricht das Gefühl, etwas ändern zu müssen, ebenso wie die Gewissheit, dass sich das nur gemeinsam erreichen lässt. Bezeichnenderweise singt Jakob Amr im umwerfenden Freaks, bei dem Erik Heise von Pabst mitwirkt und das den besten Refrain des Albums hat, am Ende von „fellow sufferers“.
Energie wird hier stets mit Finesse gepaart wie in Funeral, das vom ersten Ton an große Unbedingtheit ausstrahlt. New 68 schafft den Spagat zwischen Disco und Melancholie, Home könnte man Funk-Rock nennen, wenn die Red Hot Chili Peppers diesen Begriff nicht für alle Zeiten diskreditiert hätten. Dice hat wie viele Songs des Albums eine mitreißende, universelle Kraft und ist dennoch sehr individuell. Ein sehr typischer Moment ist Where Are You: Der Song ist tanzbar und sogar hibbelig, aber das geht keineswegs mit Kontrollverlust einher. Zur hier so überdeutlich erkennbaren Souveränität der Leoniden gehört, dass jederzeit klar bleibt, wie genau geplant, reflektiert und komplex konstruiert das alles ist. Auch Medicine illustriert sehr gut, wie das Album funktioniert: Gefühlt alle zehn Sekunden gibt es eine neue Idee und alle 30 Sekunden wähnt man sich sogar in einem neuen Genre, das Spektrum der Referenzen reicht dabei von Jamiroquai über Stevie Wonder bis Fugazi – und mit „No vaccine against disbelief“ gibt es im Text auch noch eine clevere Corona-Anspielung.
Der beste von vielen sehr guten Songs ist die Single L.O.V.E. Die Melodie einer Wurlitzer-Orgel bildet den Ausgangspunkt, aus dem sich dann ein musikalisches Abenteuer entwickelt, das kein Mensch hätte voraussehen können und das ebenso euphorisch wie euphorisierend wird. Was sich über Disappointing Life sagen lässt, trifft letztlich auf alle Songs des Albums zu: Leoniden zeigen hier mit viel Leidenschaft und Intelligenz, wie vielschichtig und interessant Rockmusik (weiterhin) sein kann.