„You know you got a future“, heißt die erste Zeile von Nevermind. Als der Song 2016 veröffentlicht wurde und im Jahr darauf auch das Debütalbum der Leoniden schmückte, war das nicht nur eine Verheißung, sondern auch schon eine gewagte These. Seitdem ist diese Prognose noch etwas wackeliger geworden. Für die Band aus Kiel und ihre Fans ist unverkennbar: Die Sache mit der Zukunft sah schon einmal besser aus, denn Boomer haben die Welt versaut. Die Flüsse trocknen aus, die Wälder brennen. Aufrüstung soll den Krieg von uns fernhalten, einstige Selbstverständlichkeiten wie Heizen, Gemüse und Urlaub werden zu Luxusgütern, ausgerechnet die vollkommen asozialen Finanzmärkte sollen demnächst die Rente für künftige Generationen sichern. Und eine Pandemie sorgt dafür, dass fast alle Dinge, die jungen Menschen Spaß machen, nur noch unter Lebensgefahr möglich sind – und dass dieses Konzert in Leipzig dreimal verschoben werden musste, bevor es heute Abend im Felsenkeller endlich über die Bühne gehen kann.
Nicht ganz zufällig singen Leoniden auf dem aktuellen Album davon, bei der „Funeral of the world“ zuzuschauen. Es gehört allerdings, und diese Show in Leipzig bestätigt das einmal mehr, zu den schönsten Eigenschaften eines Leoniden-Konzerts, dass man dabei nicht nur reichlich großartige Songs, eine ziemlich einzigartige Bühnenshow und immer wieder Überraschungen wie Coverversionen oder während des Crowdsurfings gespielte Percussions erleben kann. Sondern hier auch das Gefühl bekommt: Vielleicht gibt es doch eine Zukunft, sogar eine gute. Diese Kids kriegen die Scheiße irgendwie hin.
In der Musik von Jakob Amr, Lennart Eicke, JP Neumann, Djamin Izadi und Felix Eicke stecken so viel Einfallsreichtum, Energie, Emotion und Optimismus, dass es ansteckend wird. Entsprechend groß ist – auf der Bühne und im Publikum – die Vorfreude auf das nach Angaben der Band größte eigene Konzert, das Leoniden bisher (also außerhalb von Festivals) jemals gespielt haben. Die Fans feiern die beiden Vorbands (von denen sich insbesondere Lime Cordiale als mega erweisen), sie singen sogar die Lieder mit, die in dem Umbaupausen den Ballsaal im Felsenkeller beschallen. Und natürlich flippen sie während der Show komplett aus, vom Complex Happenings-Instrumental zu Beginn bis Sisters als letzter Zugabe.
Klassiker wie Kids und People (das etwas aus den Fugen gerät) werden genauso umjubelt wie das nach wie vor umwerfende L.O.V.E. und der neue Song Smile. Schnell ist überdeutlich, wie groß der Nachholbedarf an Action und Euphorie nach drei Jahren Pandemie ist, ebenso an Moshpits, Hüpfen und Tanzen. Niemand schert sich darum, dass Corona draußen vor der Tür noch sehr präsent ist, dass gerade Menschen im Mittelmeer ertrinken und Polkappen schmelzen. So soll es natürlich auch sein während eines Rockkonzerts. Trotzdem ist das kein Tanzen auf den Gräbern, kein „Nach uns die Sintflut“ im Angesicht der Apokalypse und auch kein Versuch, einfach die eigene Wut über all die Scheiße herauszulassen, wie das einst bei Nirvana war (deren Smells Like Teen Spirit in der Zugabe eingebaut wird). Die Musik von Leoniden erlaubt all das zwar auch, bietet aber mehr. Hier geht es darum, Hoffnung und Kraft zu schöpfen, die es braucht, um etwas an der Scheiße zu verändern – und zwar in Gemeinschaft und nach den eigenen Spielregeln. Es geht darum, Dinge in die Hand zu nehmen und möglich zu machen. Dass während (!) der Show eine Charge mit brandneuen und selbst gestalteten Leoniden-T-Shirts direkt aus der Druckerei am Merchandising-Stand ankommt, passt da wunderbar ins Bild.
Nicht zuletzt wegen dieses stimulierenden Gefühls der Selbstermächtigung sind Konzerte die ultimative Art, um Leoniden zu erleben. Zumindest, wenn man die nötige Konstitution hat: Es ist im Felsenkeller so wild und heiß, dass Sänger Jakob Amr zuerst feststellt, die Show eifere dem bisher krassesten Auftritt der Leoniden 2018 im Conne Island nach, sich etwas später darüber wundert, dass sein Herz extrem schnell schlägt, um dann vor der ersten Zugabe festzustellen: „Ich war noch nie so fertig an dieser Stelle des Sets.“ In der Tat wird am Ende des Abends jeder im Saal komplett durchgeschwitzt sein – egal, ob man mitten in der Wall Of Death im Innenraum war oder bloß ruhig hinten an der Bar rumgestanden hat. Bedenkt man, dass es in diesem Jahr schon Tage gab, die noch einmal 10 °C heißer waren, dass theoretisch noch ein paar mehr Leute in den Felsenkeller gepasst hätten und dass schon im ersten Drittel der Show einige Fans von Sanitäter*innen herausgetragen werden müssen, trübt das durchaus ein wenig das Vergnügen und entspricht auch nicht dem Leoniden-Credo, für alle einen schönen Abend im Zeichen gegenseitiger Rücksichtnahme möglich zu machen. Für die Temperaturen kann die Band freilich wenig, und verständlicherweise hat sie auch keine Lust, sich von den Sauna-Bedingungen in der eigenen Power einschränken zu lassen.
Nach der Show kommen die Menschen mit Glitter, der kaum von den völlig verschwitzten Körpern zu entfernen ist, aus dem Innenraum. Vor dem Felsenkeller wringen so viele Fans ihre T-Shirts aus, dass man mit dem Inhalt vielleicht die Flüsse wieder füllen und die Waldbrände löschen könnte. Das ist natürlich ein schönes Symbol für den Spirit von Spaß, Ekstase und Revolte, den Leoniden so intelligent und mitreißend verbreiten. Der Gedanke, der auch nach diesem Konzert unverkennbar ist, lautet: Die Welt ist gegen uns, aber trotzdem ist alles möglich und vielleicht wird alles gut, wenn wir es zusammen angehen. Oder eben: „We are the freaks we stay together.“