Künstler*in | Lies | |
Album | Lies | |
Label | Big Scary Monsters | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung | Bandfoto oben: (C) Fleet Union / Alexa Vicius |
Der in Brooklyn lebende Nate Kinsella macht Musik bei Birthmark und Make Believe. Von seiner Homebase in Chicago aus ist Mike Kinsella bei Cap’n Jazz und Owen aktiv. Beide sind zudem Mitglieder bei American Football und haben auch mal eine Weile zusammen bei Joan of Arc gespielt. Und nun haben sie als Lies ein weiteres Projekt am Start und veröffentlichen heute unter gleichem Namen eine ziemlich spektakuläre Platte.
Vielleicht ist das alles gar nicht so erstaunlich: Die Ursache dafür könnte schlicht und ergreifend in den Genen liegen. Denn Nate und Mike sind Cousins, hatten also vor zwei Generationen gemeinsame Vorfahren. Und wie sehr Musikalität von unserem Erbgut beeinflusst wird, hat unlängst ein internationales Forscherteam unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik (MPIEA) herausgefunden. In der Studie mit Zwillingspaaren aus Schweden konnten sie Tausende Gene identidizieren, die jeweils Einfluss auf musikalisches Talent und Rhythmusgefühl haben. Aus ihrer Kombination (diese Sammlung von Genen wurde vom Forscherteam „PGSrhythm“ genannt) ließ sich „die allgemeine Musikalität der teilnehmenden Personen vorhersagen“, so Erstautorin Laura Wesseldijk. Die Untersuchung fand auch heraus, dass Musikalität in gewisser Hinsicht erblich ist, denn erstens werden die vorteilhaften Gene weitergegeben, zweitens wachsen Menschen mit entsprechend viel „PGSrhythm“ auch öfter in einer Umgebung auf, die musikalische Entwicklung fördert, weil schon die Eltern die entsprechende Veranlagung haben.
Vielleicht erscheint es vor diesem Hintergrund etwas nachvollziehbarer, wie kreativ und produktiv die beiden Kinsellas sind. Lies, wo sie zum ersten Mal wirklich nur zu zweit arbeiten, setzt ihrem bisherigen Output in dieser Hinsicht aber die Krone auf. Dabei war zunächst gar kein eigenes Projekt geplant. Der Ausgangspunkt dieser zwölf Lieder war stattdessen der Moment, als die beiden gerade neues Material für American Football schreiben wollten, und Nate dann ein paar Synthesizer-Loops vorstellte, die er mit der Propellerhead-App gebastelt hatte. Mikes erste Reaktion lautete: „Das klingt wie eine ganz andere Band. Und zwar wie genau die Band, in der ich gerne spielen möchte!“
Diesen Enthusiasmus beim Erkunden neuer Felder (als wichtige Einflüsse nennen Lies beispielsweise Depeche Mode, Tears For Fears, Robyn und Peter Gabriel) hört man dem Debüt an, und er blieb auch erhalten, als das Duo über Zoom die gemeinsamen Ideen konkretisierte und dann schließlich die Songs in den ARC Studios von Mike Mogis in Omaha (wo auch die beiden letzten Alben von American Football entstanden sind) aufnahm.
Schon der Auftakt Blemishes zeigt, wie weit Lies vom übrigen Oeuvre dieser beiden Musiker entfernt ist. Der Track hat einen hoch originellen Beat, der zu Vampire Weekend passen würde, und mit vielen seltsamen Sounds, später auch tollen Streichern, einem schönen Gitarrensolo und einer The-Cure-Referenz („I’ve been looking so long at these pixels of you“) kombiniert wird. Die Eighties bleiben die prägende Ära für dieses Album, was etwa das Saxofonsolo und der Cyndi-Lauper-Verweis („Maybe your true colours are lies“) in Echoes erkennen lassen, ebenso wie die schöne New-Order-Gitarre in Camera Chimera, das heavy und zugleich verträumt wird, oder die schwermütige Atmosphäre und Dave-Gahan-Märtyrer-Pose („You’ve been painting the town with my blood“) im fast sechseinhalb Minuten langen Rouge Vermouth.
Natürlich ist die Idee „Rock-Künstler entdecken Synthesizer und Achtziger-Sounds für sich“ längst nicht mehr per se originell. Was Lies so spannend macht, ist der Wagemut, mit dem das Duo diese Ästhetik für sich erobert. Das unheilvolle Broken (der Songtitel bezieht sich auf so vielfältige Objekte wie „strings“, „dreams“ und „families“) ist das beste Beispiel dafür mit seinem klasse Arrangement, einer intensiven Atmosphäre und unfassbar vielen Ideen, die sich offensichtlich gegenseitig darin übertrumpfen wollen, wie außergewöhnlich sie sind. Einen Spannungsbogen wie aus elektronischer Musik in Summer Somewhere konnte man von den beiden Kinsellas genauso wenig erwarten wie die filigranen Streicher, die diesen Track veredeln, auch die Lust auf Theatralik in Knife oder die Experimente in Sympathetic Eyes, dessen akustisches Fundament etwa mit Geräuschen von Feuerwerk und tobenden Kindern angereichert wird, dürften viele Fans von American Football oder anderen ihrer bisherigen Stationen perplex zurücklassen.
Zugleich zeigen die beiden auch hier das Talent zur Sensibilität, das man von ihnen kennt, beispielsweise im trotz der ziemlich monströsen Bass Drum sehr vorsichtigen Corbeau oder im hoch abstrakten Album-Abschluss Merely, der bis auf ein paar Stimm-Samples instrumental bleibt. Ein Höhepunkt ist das spannende Resurrection, das erneut herrliche Streicher mit einer überraschenden Melodieführung und einem wuchtigen Beat vereint. Besonders aufhorchen lässt auch das betont ruhige No Shame. Nicht unbedingt wegen der Frauenstimme, die darin zu hören ist. Sondern weil es das achte von zwölf Stücken auf diesem Debütalbum ist – und Lies da längst schon unverwechselbar und einmalig klingen.