Künstler | Lily Allen | |
Album | No Shame | |
Label | Warner | |
Erscheinungsjahr | 2018 | |
Bewertung |
Man muss natürlich auch aufs vierte Album von Lily Allen einen dieser „Parental Advisory“-Hinweise kleben. Sie reimt an einer Stelle „sex“ auf „fags“ und benutzt „fuck“ besonders gerne sowohl als Verb als auch in der überaus freundlichen Anrede „You little fucker.“ Das Lustige dabei ist natürlich, dass die 33-Jährige längst selbst ein Elternteil ist. Ihre Rolle als Mutter ist sogar die wichtigste für all die Aspekte ihrer Persönlichkeit, die sie auf No Shame beleuchtet. Genauer gesagt: Als geschiedene Mutter, die in der Öffentlichkeit steht, gerne feiert und sogar eine Karriere als Popstar fortsetzt, obwohl die Boulevardpresse von ihr verlangt, endlich brav und häuslich zu werden.
Der Auftakt Come On Then macht das bereits überdeutlich: Lily Allen erwidert darin all die Vorwürfe und Beleidigungen, die auf dem Bild beruhen, das in Daily Mail und Social Media von ihr gezeichnet wird und so wenig mit dem zu tun hat, was sie als ihr wahres Ich betrachtet. “If you go on record saying that you know me / then why am I so lonely / ‚cause nobody fucking phones me?”, ist einer dieser Widersprüche, den sie dabei thematisiert. Die Musik dazu klingt erstaunlich zurückhaltend und ziemlich synthetisch – sollten die Pet Shop Boys jemals einen Wutanfall kriegen, könnte so etwas dabei herauskommen.
In der Mitte (vielleicht sollte man lieber sagen: im Zentrum) des Albums finden sich drei weitere Tracks, die um dieses Thema kreisen. Family Man war einer der ersten Songs, die Lily Allen schrieb, als sie von der Tour zum Vorgänger Sheezus (2014) schrieb. Das Lied handelt vom Heimweh, vom Wunsch, bei den Kindern zu sein und vom Wissen, wie gut sich auch eine Auszeit vom Familienleben anfühlt und dass man manchmal kein guter Einfluss für den eigenen Nachwuchs ist. Umgesetzt wird das als sehr klassische Klavierballade, in der sich schon in der ersten Strophe schicke Streicher dazugesellen, dann ein elegantes Schlagzeug, schließlich ein Chor und Holzbläser.
In dieser Phase erlebte Lily Allen, wie sie es scherzhaft nennt, ihre Midlife-Crisis. „Mit den ersten beiden Alben hatte ich eine Möglichkeit gefunden, meine Persönlichkeit auszudrücken. Und dann bekam ich Kinder und habe geheiratet und wusste nicht mehr, wer ich bin, und auch nicht mehr, wer ich sein wollte“, erklärt sie diese Einschätzung. „Ich fühlte mich einfach sehr verwirrt und hatte das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. Bei Alright, Still und It’s Not Me, It’s You gab es überhaupt noch keinen Druck. Ich fühlte mich nicht gehemmt. Ich hatte einen winzigen Plattenvertrag und war schon froh, wenn Thamesbeat über mich berichtete oder ich es ins Vorprogramm von Jamie T oder den Mystery Jets schaffen würde”, erinnert sie sich. Nach zwei Nummer-1-Alben, drei Nummer-1-Singles und über fünf Millionen verkauften Tonträgern liegt die Messlatte natürlich deutlich höher. „Es gibt ja Leute, die von sich sagen, sie seien zu schnell erwachsen geworden. Bei mir gilt das auf jeden Fall. Das Leben beginnt mit 40, sagt man – aber bei mir war das schon mit 32.“
Three ist der nächste Song, der explizit das Familienleben in den Blick nimmt. Lily Allen singt hier aus der Sicht ihrer 3-jährigen Tochter, die sich nichts Schöneres vorstellen kann als jede Minute mit der Mama zu verbringen, und keine schlimmere Erfahrung kennt als den Moment, in dem die Mama aus der Tür geht, womöglich sogar auf eine Tournee. Das Ergebnis wird unfassbar niedlich, nicht nur, weil neben Klavier und Gesang auch ein bisschen Kinderspielzeug für die Instrumentierung herhalten muss. Das ebenfalls sehr reduzierte Apples thematisiert offensichtlich das Scheitern ihrer Ehe, die – glaubt man diesem Lied – mit vielen Vorwürfen, einigen Drinks und ohne Sex endete. Viel Wehmut, Nostalgie und sogar Bedauern (wohl auch durch die bittere Erkenntnis, dass sie die Fehler ihrer Eltern wiederholt) stecken in dem Lied – nicht gerade Eigenschaften, die man mit der vermeintlichen Rabenmutter und dem notorischen Partygirl verbindet.
No Shame, an dem die Londonerin insgesamt vier Jahre lang gearbeitet hat, profitiert nicht nur von solchen erstaunlich ernsthaften Momenten, sondern auch von einer enorm großen musikalische Bandbreite. Dazu tragen auch etliche Gäste bei. Lily Allen begann die Arbeit an neuen Songs in Los Angeles mit dem langjährigen Wegbegleiter Fryars, dann ging es zuhause in ihrem eigenen Studio weiter. „Es war gut, mit Fryars anzufangen, die Songs dann aber alleine weiterzuentwickeln. So hatte ich nicht den Druck, dass da jemand im Raum sitzt und sich die ganze Zeit fragt: Wann liefert sie endlich etwas? Ich wollte die Ideen wirklich gründlich durchdenken und alles so echt wie möglich klingen lassen. So etwas braucht nun einmal etwas Zeit“, sagt die Sängerin.
Für die eigentlichen Aufnahmen scharte sie dann doch wieder ein größeres Team um sich. “P2J, Fryars, Sam von Get Cape, Cass Lowe, der wirklich süß war, Show N Prove… Wir haben uns unsere eigene kleine Welt geschaffen”, erzählt Lily Allen über die Sessions. “Der musikalische Teil hat zweifellos richtig Spaß gemacht. Ich habe mich mit Leuten umgeben, die ich respektiere und die mich respektieren. Das fühlte sich an wie ein Prozess, in dem ich herausfinden kann, was ich machen will, und warum ich es machen will.“
Die vielleicht prominenteste Gastrolle hat Giggs in der Single Trigger Bang. „Er hat so ehrlich mit mir gesprochen wie kaum jemand sonst. Ich steckte in dieser Identitätskrise, auch in musikalischer Hinsicht, und er hat ganz entscheidenden Anteil, dass ich da heraus fand. Er hat meinem Selbstvertrauen einen enormen Schub gegeben mit der Attitüde: Geh doch einfach ins Studio und schreibe ein paar umwerfende Songs“, sagt Lily Allen. Das gemeinsame Werk nimmt sofort eine Position der Stärke ein, die nicht aus Prahlen erwächst, sondern aus großer Lässigkeit, dazu kommt ein klasse Refrain und die Botschaft, dass es nicht schlimm ist, als Erwachsener noch so wild zu sein wie früher, vielleicht sogar fast auf dieselbe Weise.
Quasi im Duett mit dem nigerianischen Dancehall-Musiker Burna Boy, den sie über Twitter kennengelernt hat, hat Lily Allen in No Choice viel Spaß. MC Lady Chann aus London sorgt dafür, dass sich der Reggaesound von Waste ebenfalls ein gutes Stück in Richtung Dancehall verschiebt. Das Ergebnis hätte gut aufs 2006er Debütalbum gepasst, weil viel Lebensfreude und Boshaftigkeit darin stecken. Das gilt im Hinblick auf den unschuldigen und verspielten Sound auch für What You Waiting For, allerdings wird darin erneut ziemlich erbarmungslos eine Trennung verarbeitet.
In die Kategorie der Kooperationen kann man auch My One einordnen, auch wenn es dabei kein „featuring“ gibt: Das Lied stammt aus Sessions in L.A., beteiligt waren Mark Ronson und (was man besonders deutlich merkt) Ezra Koenig von Vampire Weekend. Gemeinsam haben sie einen Song hinbekommen, der extrem originell und großartig selbstbewusst ist. Lily Allen singt über all die Bettgeschichten, die sie auf der ganzen Welt hatte, stets mit der immer gleichen Erkenntnis: „I need my one / my number one.“ So entsteht eine Liebeserklärung, die tatsächlich auf dem Umstand beruht, dass sie den Liebsten so oft für eine Nacht gegen jemand anderen, der gerade verfügbar war, ausgetauscht hat.
Es sind Lieder wie dieses, in denen man auch ihren neuen Anspruch an sich selbst erkennt. „Ich kann einen halben Hammer-Song schreiben und die andere Hälfte dann mit irgendwelchem Mist füllen. Ich habe das oft genug so gemacht“, gesteht sie. „Aber diesmal hatte ich die Gelegenheit, den Mist wieder rauszubekommen und alles so wahrhaftig wie möglich zu machen. Das war mein Ziel.“ Auch Lost My Mind zeigt das und klingt dabei erstaunlich heiter für ein Lied, in dem es um die Reflexion geht über einen Wunsch, der sich nie erfüllen, und eine Entscheidung, die sich nie richtig anfühlen wird. Das sehr clever arrangierte Pushing Up Daisies wird einfach ein romantisches Liebeslied mit der Perspektive „When we’re in our eighties / I hope that you don’t hate me.“
Cake, der letzte Song auf No Shame, kann man als Lily Allens Beitrag zur MeToo-Debatte betrachten. Sie singt über den sehr alten (und leider vor allem für Frauen) noch immer sehr schwer umzusetzenden Wunsch, einfach sein Ding zu machen und kommt zur zuversichtlichen Prognose: “Eventually you’ll get a piece of that patriarchy pie / I can’t see no reason you can’t have your cake and eat it.” Die Platte mit Optimismus zu beschließen, war eine sehr bewusste Entscheidung. „Als ich mit der Arbeit an neuen Songs begonnen habe, fühlte ich mich traurig und düster. Ich habe sozusagen um Mitternacht begonnen und mich dann bis zum Sonnenaufgang durchgearbeitet. Das war eine Katharsis für mich. Der Beginn ist in der Dunkelheit, und dafür gibt es Gründe, aber das Ende ist optimistisch, und dafür gibt es auch welche“, erklärt sie.
Wie groß die Dunkelheit gewesen sein muss, zeigt beispielsweise Everything To Feel Something, basierend auf einer sehr filigranen Klavierfigur und einem ungewöhnlichen Beat. “I’ve tried everything to feel something / but nothing”, singt Lily Allen über die Suche nach dem Kick, selbst nach dem Schmerz und der Erniedrigung, als Ersatz für die Leere. Sie hat dabei sehr wohl ein Verhaltensmuster erkannt und auch den Umstand, dass ihr diese andauernde Suche nicht gut tut, aber sie sieht keine Möglichkeit, daraus auszubrechen. Der Ausgangspunkt in Higher ist ein Betrug, der eher Enttäuschung als Wut auslöst. Auch hier gibt es einen sehr reduzierten Beat, eine extrem zurückhaltende Gitarre und vor allem eine Feinfühligkeit im Text, die ihr viele niemals zugetraut hätten – und die viel Lust auf alles macht, das da von Lily Allen noch kommen wird.