Künstler | Lina | |
Album | Rebellin | |
Label | BMG | |
Erscheinungsjahr | 2018 | |
Bewertung |
Der Unterschied zwischen „gut“ und „gut gemacht“ ist ein wichtiger. „Gut gemacht“ steht für Handwerk, für technisches Können, für das Erreichen eines Ziels, das Treffen einer Erwartungshaltung. Sehr, sehr viele Popsongs sind heute gut gemacht. Es gibt einfach ausreichend Menschen, denen schöne Melodien, eingängige Wörter und passende Beats einfallen. Und es gibt, was noch entscheidender ist, sehr günstige Software, mit der man aus diesen Ideen ein richtiges Lied machen kann. Notfalls sogar, ohne ein Instrument spielen zu können. Für einen vierstelligen Betrag finde ich problemlos jemanden, der den Auftrag „Schreibe mir ein Lied, das klingt wie Calvin Harris/Ed Sheeran/Rita Ora!“ annimmt und ein Ergebnis abliefern wird, zu dem ich sagen kann: Ist gut gemacht.
Die Musik auf Rebellin, dem dritten Album von Lina, die als Lina Larissa Strahl einst die Bibi in den Bibi & Tina-Filmen spielte, ist gut gemacht. Wie auf dem Vorgänger Ego stammt der größte Teil der Lieder von Produzent Ludi Boberg und erreicht locker internationales Top-Niveau. Erstmals hat Lina zusätzlich auf einen der vielen schwedischen Hitschreiber gesetzt, Peter Boström (der hinter Loreens Eurovision-Siegersong Euphoria aus dem Jahr 2012 steckt) hat eines der Stücke mitkomponiert. Bei etwas mehr als der Hälfte der Lieder bekommt die 20-Jährige, die schon als Musikerin aktiv war, bevor sie im Kino zum Kinderstar wurde, auch selbst einen Credit als Texterin.
Die Platte ist aber nicht nur gut gemacht, sondern auch gut. Denn Lina erfüllt alle Kriterien, die dafür notwendig sind. Es geht auf Rebellin nicht darum, einen bestimmten Auftrag zu erfüllen, sondern es bleibt Raum für Überraschungen, sogar für Abweichung von genau dem, was die Konvention vorgibt. So tappt sie nicht in die Beliebigkeitsfalle wie viele Künstler, deren Material nur „gut gemacht“ ist. Vor allem aber fällt hier ins Gewicht, welche Botschaft diese Musik hat, welchen Effekt sie anstrebt. Und das ist, wie schon auf Ego, erfreulicherweise nicht die Selbstinszenierung, sondern der Aufruf an ihre Fans, skeptisch und kritisch zu sein, auch mit ihren Idolen. „Meine Fans sollen sich selbst einfach verwirklichen, sie sollen wissen, warum sie mich toll finden und wofür für ich stehe“, sagt Lina.
Diese Botschaft findet sich erfreulich offensiv auch in den 15 Liedern des neuen Albums (das es auch als Deluxe Box mit reichlich Extras gibt). Schon der Titelsong als Auftakt der Platte macht das klar. „Rebellion beginnt im Herzen. Ich möchte jeden darin bestärken, so zu sein wie er sein möchte“, sagt Lina, und der dazugehörige Track beginnt mit einem Riff auf der akustischen Gitarre, das mit etwas Verzerrung auch gut für Hardrock taugen würde. Dann macht Lina klar: Sie will die Rebellen von morgen anführen, und das sollen Rebellen sein, die nicht blind einer Ideologie folgen, sondern ihre eigene Selbstermächtigung feiern. „Passe dich nicht einfach an / passe lieber auf“, heißt es an einer Stelle, auch die Aufforderung „kein Rädchen im System“ zu sein, fehlt nicht. „Lebe wild, bleib jung und sei gefälligst rebellisch“, heißt der Refrain. Man könnte Punk dazu sagen.
„Natürlich sehe ich mich nicht als eine Rebellin, die politische Umstürze plant. Aber es steckt schon mehr dahinter, als einfach nur frech zu sein. Ich finde es wichtig, dass man nicht zu still ist“, erklärt Lina Larissa Strahl, und es gibt reichlich weitere Momente auf dieser Platte, die das untermauern. In Limit nimmt sie den sozialen Stress unter die Lupe, der durch Social Media nicht gerade geringer geworden ist. Wenn jeder Gedanke dort präsent sein muss und von anderen bewertet wird, ist das eben „sehr, sehr anstrengend alles“ und ein permanentes „Leben am Limit“, wie es der Refrain nennt. „Ich hatte Momente, in denen ich mich sogar aus den sozialen Medien entfernen wollte. Einfach die Profile löschen und fertig. Nicht mehr darüber nachdenken müssen, wie man gerade ungeschminkt aussieht, wie die Haare sitzen, oder ob man sieht, dass man heute geweint hat“, erzählt sie. „Die Botschaft, die ich an meine jüngsten sowie ältesten Follower gleichermaßen senden will, ist: Bitte verändert euch niemals für Andere, macht euch unabhängig von der Bestätigung Anderer und macht das, womit ihr euch gut fühlt! Macht einfach das Smartphone auch mal aus!“ Das werden nicht nur die Eltern ihrer oft gerade erst im Teenager-Alter angekommenen Fans, die sich selbst in Anspielung auf den Nachnamen der Sängerin #Strahler nennen, gerne hören.
Auch der Skit vor Hype hat die Botschaft: Das echte Leben, das was wirklich zählt, findet nicht bei Instagram statt. Der folgende Song beginnt irgendwo zwischen Jazz, Latin und Chanson. Der Chor im Refrain könnte dann fast eine kleine Armee der Social-Media-Verweigerer sein. „Ich will keine Fake Friends und um jeden Preis Presse / ich will sein wie ich bin / Alles andere? Kein Interesse!“, singt Lina zu einem sehr originellen und extrem wirkungsvollen Mix aus fast monströsen Drums und Balkan-Elementen. Sie ist sich offensichtlich sehr bewusst, wie flüchtig der Erfolg sein kann und wie vielen jungen Menschen die sprichwörtlichen fünf Minuten Ruhm schon ausreichen würden, um wirklich alles dafür zu tun. „Ich möchte nicht Produkte in die Kamera halten und dabei lächeln, sondern etwas anpreisen, das einen Wert hat, der endlich mal über 3,99 Euro hinaus geht – nämlich Einzigartigkeit“, stellt Lina klar.
Das gelingt auf diesem Album nicht nur durch die hochklassige Produktion, sondern auch durch clevere Reime und die Fähigkeit, den eigenen Status zu reflektieren. Nicht alles ist dabei zu Ende gedacht, manche Schlussfolgerung kommt sprunghaft zustande, aber stets geht es in die richtige Richtung. Es dürfte nicht allzu viele Alben geben, die Pop-Enthusiasten ebenso gut gefallen können wie Pädagogen oder besorgten Eltern, die in der ständigen Befürchtung leben, ihr Kind werde nie mehr vom Smartphone aufblicken.
„Ich würde mir persönlich wünschen, dass mal Dinge mit Inhalt gehypt werden. Dass gehypt wird: Wow, da hat jemand eine Meinung! Da setzt sich jemand mal für jemand anderen ein! Ich will nicht mit dem Finger zeigen, aber es ist ein Gefühl und ein Gedanke in mir, den ich teilen möchte, darüber, dass es so, wie es läuft, doch irgendwie nicht richtig zu sein scheint? Paradoxerweise verliert man dadurch, dass man sich laufend in Social Medias selbst darstellt, die Verbindung zu sich selbst, da man nur darauf achtet, was andere sehen wollen. Irgendwie fühlt sich das wie ein Wettbewerb zu anderen Beiträgen an“, sagt Lina zum Ausgangspunkt für Hype. Das Thema Wettbewerb und Inszenierung klingt auch in Glüh Birne deutlich an: Es geht um Erwartungshaltung und Schreibblockade. Zu einem Neo-NDW-Sound heißt es „Mir fällt nichts ein, mir fällt nichts ein / Los, glüh Birne!“, auch eine Zeile wie „Ich brauche ein Konzept, das so gut ist, dass ich’s selber schon glaube“ zeigt einen durchaus selbstironischen Umgang mit den Prinzipien des Popbusiness und der eigenen Wahrnehmung.
„Auch dafür steht Rebellin“, sagt Lina zur Differenz zwischen ihrem Selbstbild und der öffentlichen Wahrnehmung. „Dafür rebelliere ich natürlich auch. Ich rebelliere für mich persönlich, für meine eigenen Ziele und Bedürfnisse, um mich allen so zu zeigen, wie ich wirklich bin.“ Dass dazu auch erwachsenere Momente gehören als zuletzt, versteht sich von selbst. Bescheuertes Herz thematisiert die Abweichung von Verstand und Gefühl und die Ahnung, dass beides vielleicht nie im Leben so richtig übereinstimmen wird. In Everest wird der höchste Berg der Welt zu einer Metapher, die meint: Eine Beziehung aufrechtzuerhalten, kann auch beschwerlich sein, gefährlich, ermüdend, frustrierend. Aber es geht ums Dranbleiben. „Ich will wissen, wie da oben das Wetter ist“, singt Lina, zu einem Sound, der ebenfalls recht reif ist, mit Streichern, zurückhaltendem Beat und vergleichsweise abstrakter Gitarre. „Irgendwann kommen wir an / und sind dann da oben zusammen“, lautet die Motivation für Weiterkraxeln.
Ohne Dich will sich die Vorteile ins Bewusstsein rufen, die das Ende einer Beziehung hat (etwa: mehr Zeit, mehr Popcorn). Man hat dieses Thema zuletzt etwa bei Kraftklub (Für immer) gehört, natürlich ist die neugewonnene Freude an der Einsamkeit hier wie da nicht ganz glaubwürdig. Dynamit besingt die reinigende Kraft eines feurigen Temperaments, das auch zum Ausbruch kommen darf, bei kleinen Ärgernissen des Alltags und echten Kränkungen. Süß feiert die Begeisterung und Verliebtheit, in die man sich auch mal hineinsteigern darf („Kann es sein, dass du mit Absicht so süß bist?“), Küss mich + schlägt Knutschen als ultimative Versöhnungsmethode vor, was eine gute Idee ist, im Sound zum Abschluss des Albums allerdings eine Schlager-Komponente enthält, die man bisher nicht von Lina kannte.
„Ich mache auch musikalisch einfach das, was ich gut finde. Ich will mir darüber keine Gedanken machen, wo das möglicherweise hineinpasst – das tue ich beim Musikhören ja auch nicht. Ich möchte einfach für bessere Stimmung sorgen“, umreißt Lina ihren Ansatz. Das ist immer im höchsten Maße zeitgemäß, stets positiv, manchmal grell, selten misslungen wie in Hypnotisch, das von einer elektrisierenden Begegnung berichtet, wobei allerdings der etwas plumpe Refrain nicht zum Versuch passt, in der Strophe subtil zu sein. Die sehr romantische Ballade Wir waren hier setzt auf einen Ohoho-Chor im Hintergrund und landet irgendwo zwischen Denkmal von Wir sind Helden und der berechneten Massentauglichkeit von Andrea Berg. Im Statement Wir waren hier, das hier in eine Bushaltestelle oder einen Baum geritzt wird, steckt natürlich auch der Hinweis „Wir waren jung.“ Ein Höhepunkt der Platte ist Game Over: Höchst clever wird darin Computerspiel-Terminologie auf das Ende der Beziehung übertragen. Es gibt Endgegner, Bonuspunkte und andere Level – natürlich auch die passenden Sounds dazu.
Marteria und Cro nennt Lina als wichtige Einflüsse für das Album, was ebenso treffend erscheint wie die Orientierung an der Pop-Ästhetik von Taylor Swift oder Selena Gomez. Auch Katy Perry darf man in diesem Kontext wohl nennen, nicht zuletzt, weil es bei ihr auch die Idee gibt, mit positiver Musik positiven Einfluss auf junge Menschen (vor allem junge Mädchen) nehmen zu können. Am klarsten bringt das Alles Rosa zum Ausdruck. So infantil der Titel klingt, so lustvoll wird hier mit selbst erdachten Regeln wie aus einer fiktiven Ratgeberliteratur gespielt, die alle letztlich die Quintessenz für das Lina-Prinzip formulieren: Alles ist gut für dich, was dafür sorgt, dass du dich gut fühlst. Das kann eine Farbe sein („Wenn ich Rosa sehe, bin ich sofort besser drauf“, gesteht sie). Oder eben eine tolle Pop-Platte.