Linkin Park – „Hybrid Theory“

Künstler Linkin Park

Linkin Park Hybrid Theory Review Kritik
Zum 20. Jubiläum wird „Hybrid Theory“ als Deluxe-Ausgabe neu aufgelegt.
Album Hybrid Theory: 20th Anniversary Edition
Label Warner
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

Als Chester Bennington, der Sänger von Linkin Park, am 20. Juli 2017 Selbstmord beging, war das ein Schock für mich. Nicht, weil ich ihn oder seine Band so sehr ins Herz geschlossen hatte. Sondern weil kurz darauf eine Mahnwache in Leipzig – und an vielen anderen Orten – stattfand. Fans der Band aus Kalifornien trafen sich, weinten, zündeten Kerzen an und spendeten sich gegenseitig Trost. Ich konnte das nicht fassen. Natürlich waren Linkin Park eine enorm erfolgreiche Band, sie haben mehr als 130 Millionen Alben verkauft, zwei Grammys gewonnen, zahllose umjubelte Konzerte gespielt. Aber eine Mahnwache? Die gab es nicht, als im Januar 2016 David Bowie starb, nicht bei Leonard Cohen ein knappes Jahr später und nicht bei Chuck Berry im März 2017 – alles Musiker, die man mit gutem Recht für deutlich einflussreicher halten kann. Ich kann mich auch nicht an ähnliche Aktionen bei Michael Jackson oder Kurt Cobain erinnern.

Irgendetwas muss an Linkin Park also besonders sein und insbesondere eine hochgradig intensive Identifikation ihrer Fans mit dieser Musik auslösen. Die 20th Anniversary Edition ihres Debütalbums Hybrid Theory ist sicher ein guter Anlass, um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Das ursprünglich am 24. Oktober 2000 veröffentlichte Album begründete die Weltkarriere dieser Band: Es wurde die meistverkaufte Platte des Jahres 2001 in den USA (11 Millionen Exemplare wurden dort abgesetzt, weltweit waren es sogar 25 Millionen) und ist bis heute das meistverkaufte Debüt des 21. Jahrhunderts. Die Jubiläums-Ausgabe reichert das Original-Album um Demos, Raritäten, B-Seiten und DVDs an, verfügbar sind verschiedene Formate, darunter eine Super Deluxe Box (5 CDs + 3 DVDs), ein Vinyl-Boxset und die Deluxe-CD. Wenn es eine Antwort bei der Suche nach dem Reiz von Linkin Park (Hybrid Theory war kurzzeitig auch ihr Bandname; als Chester Bennington 1999 gerade als neuer Sänger zu ihnen gestoßen war, veröffentlichten sie unter diesem Namen auch eine gleichnamige EP) gibt, dann muss sie hier zu finden sein.

Anhand meiner sporadischen Begegnungen mit dieser Band hatte ich schon einen vagen Verdacht. Natürlich konnte man ihrer Musik nicht aus dem Weg gehen, wenn man seit der Jahrtausendwende einmal Musikfernsehen geschaut, ein Rockfestival besucht oder in einem Club getanzt hat, der sich gerne „alternativ“ nennt. Bei diesen Gelegenheiten war mein Eindruck: Das ist Musik für gequälte Seelen, aber ziemlich beschissene Musik. Ich mag grundsätzlich eher konstruktive, positive, erhebende Musik, aber selbst innerhalb des Destruktiven – das natürlich seine Daseinsberechtigung hat – konnte ich den Appeal von Linkin Park nicht verstehen. Wenn ich introvertiert bin, mich verstanden fühlen möchte mit meinen Problemen, Leidensgenossen finden möchte für meinen Schmerz, warum sollte ich dann so eine Fred-Durst-Dumpfbacken-Musik hören, die nicht nur plakativ ist, sondern auch reißerisch? Warum nicht eine der Sensibelchen-Bands, von denen es im Jahr 2000 mehr als genug gab? Coldplay veröffentlichten damals ebenfalls ihr Debüt, Radiohead wurden für Kid A abgefeiert, Travis waren Megastars. Warum warf ich mich in so einem Fall nicht in die verlässlichen Arme von The Cure? Oder vergötterte die bekackten Smiths?

Hybrid Theory zeigt auch mit einem Abstand von 20 Jahren zunächst, wie zutreffend der erste Eindruck war: Musikalisch ist das kein bisschen innovativ oder subtil, nicht einmal innerhalb des nicht gerade zur Vielschichtigkeit neigenden Nu-Metal-Genres. Harter Rock trifft auf Rap, dazu gibt es Computerbeats oder weitere elektronische Elemente. Ein Song wie With You setzt seine Scratches zwar besonders prominent ein und lässt die Gitarren noch ein bisschen fieser klingen als auf dem Rest des Albums, aber das wäre problemlos auch schon von den Beastie Boys oder Body Count vorstellbar gewesen. Selbst in Deutschland findet man zu dieser Zeit schon passende Vorbilder: Ein Track wie Runaway ist nicht härter, moderner oder eigenständiger als das, was damals beispielsweise die Guano Apes veranstaltet haben. Ein Song wie die Nummer-1-Single In The End zeigt insbesondere in den melodiösen Passagen, dass Chester Bennington (anders als sein Kumpel Chris Cornell) auch kein großer Sänger ist, das instrumentale Cure For The Itch bietet als experimentellster Moment auf diesem Album bloß TripHop von der Stange. Und textlich geht es tatsächlich um das Leiden an der Welt, um das Gefangensein im eigenen Kopf und eigenen Körper. „They point the finger at me again“, beklagen Linkin Park im besagten Runaway, „My life / my pride / is broken“, heißt es in Points Of Authority, „I can’t hold on / it’s all too much to take in“, singt Bennington in By Myelf.

Natürlich kann man sich, insbesondere als Teenager mit Hang zum Weltschmerz, insbesondere in einem Land, das so kaputt ist wie die USA, zu solchen Botschaften hingezogen fühlen. Noch mehr gilt das, sollte man die hier besungenen Traumata selbst erlebt haben wie den Kindesmissbrauch, der in Crawling besungen wird. Linkin Park packen sie in Songs mit guter Dramaturgie (Forgotten) oder stimmiger Atmosphäre (Pushing Me Away). Vieles auf Hybrid Theory ist wuchtig und heavy, durch die Kombination von Rock-Härte mit der bewussten Kälte elektronischer Sounds und dem Einsatz von Rap als Medium der Selbstermächtigung wird diese Wirkung verstärkt, ebenso durch das effiziente Spiel mit Laut-Leise-Dynamik, das durch diese Zutaten möglich wird. Man kann auch festhalten, dass die Platte insgesamt gut gealtert ist. Trotzdem erschließt Hybrid Theory nicht, worin die Größe dieser Band bestehen soll. Vor allem fehlt es in diesen Liedern an einem Ausweg, einer Karthasis – die doch eigentlich das sein sollte, wonach dieses Publikum sucht. Die Single One Step Closer ist tpyisch dafür: Die Musik hat Kraft, aber der Text ist nahe an einer Kapitulation: „Everything you say to me / takes me one step closer to the edge / I’m about to break.“ Auch in A Place For My Head wirkt Bennington wie ein Kind, das sich im Supermarkt schreiend auf den Boden wirft, weil es keine Süßigkeiten bekommt. Den „whirlwind inside my head“, von dem er in Papercut spricht, kann er offensichtlich nicht beherrschen, und statt sich gegen ihn aufzulehnen, hat er die Beobachtung dieses Sturms und seiner fatalen Folgen zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht.

Eine Mahnwache gab es also vermutlich nicht nur, weil Linkin Park eine der ersten Bands waren, die von Anfang an sehr intensiv auf die Möglichkeiten des Internets setzten, sich dort also eine Community aufbauen konnten, die sich im Falle einer Nachricht wie dem Selbstmord des Sängers schnell zusammenfinden und verabreden kann. Sondern auch, weil diese Fans – ebenso wie die Band – im Leiden verharren, vielleicht sogar im Leiden verharren und sich in ihrem Kummer suhlen wollen. Nirgends auf dieser Platte wird Verantwortung für die eigene Situation übernommen. Schuld an Paranoia und Trauma sind die anderen, die Eltern, die Mitschüler, die Gesellschaft. Selbst wann das zutrifft, könnte man als erwachsener Mensch auf die Idee kommen, in gewissem Rahmen selbst etwas daran zu ändern und das Leiden vielleicht sogar zu überwinden. Aber diese Gedanke scheint Linkin Park völlig fremd zu sein. Man leidet hier bis zum Tod, aber immerhin gemeinsam.

Auch im Video zu Crawling ist Missbrauch das Thema.

Website von Linkin Park.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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