Künstler | Lisa Who | |
Album | Ein neuer Beginn | |
Label | The Shit Records | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Wenn man sich als Künstlernamen „Lisa Who“ aussucht, ist eine Identitätskrise früher oder später wohl zwangsläufig. Die Musikerin aus Berlin, die bürgerlich Lisa Nicklisch heißt, seit 2010 die Keyboarderin bei Madsen ist und 2017 ihr erstes Soloalbum vorgelegt hat, begegnet dieser Gefahr auf ihrer zweiten Platte mit einem noch stärkeren Bekenntnis zur Eigenständigkeit. Den Albumtitel Ein neuer Beginn darf man wörtlich nehmen: Das Werk erscheint auf ihrem jüngst gegründeten Label mit dem wunderschönen Namen „The Shit Records“ (so etwas mögen wir bei Shitesite natürlich), die Texte betonen den Willen, die Chancen des Moments zu ergreifen, und auch musikalisch gibt es in gewisser Weise eine Neuausrichtung.
Denn die psychedelisch-verträumte Prägung des Debüt-Konzeptalbums Sehnsucht (2017) kann man hier zwar noch immer erkennen. Es gibt aber diesmal auch betont heitere, kraftvolle und beschwingte Stücke. Gleich der Titelsong als Auftakt des Albums macht das deutlich. „So weit das Auge reicht, nur leuchtende Raketen“, heißen die ersten beiden Zeilen dieser Erinnerung an eine Silvesternacht, und kurz darauf wird das Lied bereits erstaunlich wuchtig, fast Prog-Rock. Das passt gut zum Spektakel des Jahreswechsels, genauso wie zum Aufeinandertreffen von Unsicherheit, Reue und Vorfreude.
Das folgende Leichtigkeit setzt auf einen guten Beat, ein paar Eighties-Spielereien und eine tiefe Stimme im Hintergrund. Lichtgestalt ist ebenfalls betont heiter in der Nähe von Sixties-Girlgroup-Klängen, wenn auch ohne deren Strahlkraft. Weit wie die See ist rockig, sogar dreckig und drängt nach vorne, da kann man etwa My Favourite Game von den Cardigans als Blaupause betrachten.
Zu den Kontinuitäten von Ein neuer Beginn gehört, dass Sebastian Madsen erneut ein wichtiger Mitstreiter ist, der schon auf Sehnsucht auch einige Songs mitgeschrieben hatte. Er hat die neue Platte gemeinsam mit Tobias Siebert produziert, in den Studios der beiden im Wendland beziehungsweise in Berlin wurden die zwölf Songs auch aufgenommen. Die langen instrumentalen Passagen des Debüts findet man hier ebenfalls wieder: Sie machen oft den Charakter der Songs von Lisa Who aus, wirken manchmal aber auch eitel.
Als besonders deutliche Paralle erscheint diesmal Prag, die Band, in der Nora Tschirner bis 2015 sang. Ein Lied wie Er hat mich wieder nicht gesehen würde mit seinem eleganten Retro-Charme auch perfekt zu dieser Band passen, ebenso wie das Thema: Es geht um das „Was wäre wenn“ der kleinen Beinahe-Flirts im Alltag, all die Möglichkeiten und Katastrophen, die sich daraus zumindest in der Fantasie entspinnen können. Auch für Glücklich ohne Dich gilt das, den besten Song der Platte, der vom Überwinden des Schmerzes und der Bereitschaft zum Loslassen handelt, wie es auch bei Amy Winehouse oder Lana Del Rey gerne zu finden ist – und die Stimme von Lisa Who fügt sich mindestens genauso gut in diese Atmosphäre ein wie die der genannten Vorbilder. Auch der Album-Abschluss Ich komme mit, ich bin dabei passt in diese Kategorie. Rund um die Zeile „Wenn wir den Bach schon runtergehen, dann zusammen“ besingt sie darin den Reiz, die Selbstzerstörung zu begleiten und nachzuahmen, und weil die offensichtlich depressive Person, an die das gerichtet ist, „nur noch Chet Baker hören“ kann, gibt es auch ein Trompetensolo.
Nicht alles funktioniert so gut: Nicht wahr stellt zwar die ganz großen Fragen und besingt besonders programmatisch die Hinwendung zu Zuversicht und Achtsamkeit („Nimm dir Zeit, zu vergessen was wird / leg die Zukunft in der Gegenwart ab“), lässt die Künstlerin aber angesichts dieser Fallhöhe viel zu sehr wie ein Fähnchen im Wind erscheinen. Auch In der Natur ist mit seinen Reimen von „Schnee“ und „See“ und dem Lobpreis des Runterkommens inmitten von landschaftlicher Schönheit selbst dann noch etwas arg schlicht, wenn man weiß, dass Lisa Who ein Stadtkind ist. In jedem Fall hat dieser Song bei weitem nicht genug Substanz, um die Spielzeit von fast sechs Minuten zu füllen.
Viel besser gelingt das verwandte Müde am Mehr, das verspielt und viel klüger wird, als der Titel es denken lässt. Mutter könnte man vorwerfen, es sei ein perfektes Argument für den Vorwurf der „Generation Schneeflocke“, man sollte hier aber sicher nicht leichtfertig vom lyrischen Ich auf die Autorin schließen – zumal eine clevere Zeile wie „Ich bin ein Komfortzonenjunkie“ ihre Fähigkeit zu Selbstreflexion und -ironie unterstreicht und der Song letztlich sehr sensibel Bequemlichkeit, Unsicherheit und tatsächliche Angst behandelt, und zwar in einem Arrangement, das besonders deutlich ihr Können als Sängerin zeigt. Ganz wundervoll funktioniert ihre Ästhetik auch in Freundschaft, das sehr schön den Wert von gegenseitigem Beistand, unerschütterlichem Vertrauen und gemeinsamen Erfahrungen besingt. Auch hier erkennt man gut, was die Lieder auf Ein neuer Beginn im besten Falle speziell macht: So offensichtlich die Texte häufig sind, so ausgefallen sind die Arrangements. Und genau durch ihre Eigenwilligkeit wird diese Musik eigenständig.