Künstler*in | Lonnie Holley | |
Album | Oh Me Oh My | |
Label | Jagjaguwar | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung |
Sollte eines Tages jemand auf die Idee kommen, die Lebensgeschichte von Lonnie Holley zu verfilmen, müsste er sich mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit den Vorwurf gefallen lassen, die Handlung sei unglaubwürdig. Schließlich hat der 72-Jährige aus Alabama eine geradezu tollkühne Biographie vorzuweisen. Nur ein paar Highlights: Er hat 26 Geschwister, als Vierjähriger tauschte ihn seine Mutter gegen eine Flasche Whiskey ein und er wurde nach einem Autounfall schon einmal für hirntot erklärt.
Sicher noch spektakulärer ist, dass dieser Mann, dessen Kindheit und Jugend mit dem Wort „prekär“ noch sehr beschönigend beschrieben ist, heute als gefeiertes Aushängeschild schwarzer Kultur gilt. Seine bildende Kunst ist in den berühmtesten Galerien der Welt zu sehen, darunter das Met und das Smithsonian. Als er 2012 im Alter von 62 Jahren beschloss, sein erstes Musikalbum herauszubringen, landete die Platte unter anderem in der Jahresbestenliste der Washington Post. Nun, bei seinem vierten Album, liest sich die Liste der Beteiligten wie ein Who Is Who der amerikanischen Alternative-Musikszene.
Oh Me Oh My wurde produziert von Jacknife Lee, zu dessen Kundschaft beispielsweise bereits U2, Taylor Swift oder The Killers gehörten. Gastauftritte gibt es unter anderem von den Grammy-Preisträgern Michael Stipe (R.E.M.) und Justin Vernon (Bon Iver), dazu von der malischen Sängerin Rokia Koné (in ihrer Heimat gefeiert als „Rose von Bamako“), Moor Mother, die als als Mitbegründerin des Freejazz-Quintetts Irreversible Entanglements regelmäßig in die Bestenlisten ihres Genres schafft, und Labelkollegin Sharon van Etten.
So eindrucksvoll ihre Beiträge sind, so sehr wird die Platte dennoch von Lonnie Holley dominiert. Schon in den ersten Sekunden wird das klar, wenn er in Testing zu ein paar Klavierakkorden die Einzigartigkeit seiner Stimme entfaltet. Neben seinem ungewöhnlichen Gesang (im abschließenden Future Children wird er durch einen Effekt verfremdet, das bräuchte seine Stimme allerdings gar nicht, um wie nicht von dieser Welt zu klingen) sind seine Stream-of-Consciousness-Texte unvergleichlich, wie man etwa in I Can’t Hush erleben kann, in dem seine Worte nur von ein bisschen Synthesizer und einer sehr sparsamen Gitarre begleitet werden. Und nicht zuletzt wird Oh Me Oh My natürlich von seinem enormen Erfahrungsschatz geprägt.
“The deeper we go / the more chances there are / for us to understand / the oh-me’s and understand the oh-my’s”, lässt er uns im reduzierten Titelsong wissen, der vom schönen Zusammenspiel der Stimmen lebt, wobei die von Michael Stipe schwebend und besänftigend wirkt, während Lonnie Holleys unstet und ruppig bleibt. Mit dem Sirenen-Gesang von Sharon Van Etten im Hintergrund thematisiert er in None Of Us Will Have But A Little While die Vergänglichkeit und wird dabei trotz dieses lakonischen Titels am Ende mächtig aufgewühlt. Mount Meigs ist benannt nach einer berüchtigten Schule in Alabama, die er 1964 verlassen hat, ohne Abschluss, wie er singt, „but with some cuts and bruises that I will never forget“. Das wird begleitet von einem wilden Beat und Bläsern, die sich immer mehr dem Wahnsinn anzunähern scheinen. Der Text benennt all die Misshandlungen und Ungerechtigkeiten, er verharmlost nichts, aber man hört keine Empörung heraus. Lonnie Holley betrachtet diese Erfahrung offensichtlich als eine (womöglich notwendige) Episode seiner turbulenten Biographie.
Das ist das wichtigste Charakteristikum von Oh Me Oh My: Der Künstler blickt auf sein Leben, aber auch auf das große Ganze (was bei ihm nicht nur aktuelle gesellschaftliche Probleme meint, sondern auch die Betrachtung von Natur, Geschichte und Universum) – und er ist dabei erstaunlich versöhnlich und konstruktiv. Die beiden Songs mit Moor Mother zeigen das am deutlichsten: I Am Part Of The Wonder ist im Klang vor allem durch die meisterhaften Drums von Marlon Patton kunterbunt und quicklebendig wie die vielen Wunder der Welt, die hier gefeiert werden, von einem Regentropfen bis zum Herzschlag, das Stück vereint Groove und Komplexität. Earth Will Be There entwickelt sich von Ambient über einen Beinahe-Drone erst in Richtung TripHop, schließlich zu Jazz, getragen von einem angesichts der ungebrochenen Umweltzerstörung erstaunlich zuversichtlichen Versprechen: „Earth will be there to catch us when we fall.“
Natürlich kann man das esoterisch finden, aber für den 72-Jährigen hat sich diese Mentalität offensichtlich als Überlebens- und Erfolgsstrategie erwiesen, die er hier mit der Welt teilt. Neben dieser Botschaft ist die stilistische Bandbreite von Oh Me Oh My beeindruckend: Manche Lieder wirken wie aus dem Ärmel geschüttelt (Better Get That Crop In Soon), andere sind fragil konstruiert (Kindness Will Follow Your Tears mit Justin Vernon von Bon Iver), etliche kann man mit ihren abstrakten und trotzdem organischen Sounds nur wie ein ganz eigenes Genre betrachten, wie If We Get Lost They Will Find Us mit Rokia Koné, die hier als Duettpartnerin in ihrer Muttersprache singt.
„Meine Kunst und meine Musik sind immer eng mit dem verbunden, was um mich herum passiert, und die vergangenen Jahre haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben“, sagt Lonnie Holley. „Wenn ich mir diese Songs anhöre, spüre ich die Zeiten, die wir durchlebt haben. Ich bin den Mitwirkenden sehr dankbar, besonders Jacknife, der den Songs geholfen hat, Form anzunehmen und mich wirklich inspiriert hat, tiefer in mir selbst zu graben.“