Künstler | Lou Barlow | |
Album | Reason To Live | |
Label | Joyful Noise | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
I Don’t Like Changes heißt das sechste Lied auf dieser Platte. Man muss vermuten, dass da Ironie im Spiel ist oder Lou Barlow ein ihm wesensfremdes lyrisches Ich zu Wort kommen lässt. Denn auch wenn der betreffende Song im typischen Akustikgitarrensound daherkommt, den man aus seinem Solowerk kennt, ist wohl selbst bei einer sehr flüchtigen Betrachtung der Laufbahn dieses Musikers klar, dass bei ihm eher das Gegenteil der Fall ist.
Seine Platten mit Sebadoh, Dinosaur Jr., Folk Implosion und als Solokünstler sind vom stetigen Drang zur Entwicklung geprägt, auch für das heute erscheinende Album Reason To Live gilt das. Es ist ein sehr erwachsenes Werk, in dessen Zentrum die Idee steht, dass Wandel unvermeidbar ist und man ihn deshalb am besten akzeptieren oder sich gar zunutze machen sollte. “Tide after tide, change is the meaning of life / it turns any wall into sand”, heißt es im abwechslungsreichen Love Intervene, das viele der Stimmungen dieser Platte von leidenschaftlich-schwungvoll bis introvertiert integriert. „Be honest with yourself“, heißt die zentrale Zeile in Tempted, wohl fußend auf der Erkenntnis, dass man letztlich ohnehin keine andere Wahl hat.
Dieses Gefühl von In-sich-selbst-Ruhen und Endlich-angekommen-Sein ist sehr prägend für Reason To Live, und auch das hat mit einer Veränderung zu tun. Lou Barlow ist unlängst aus Los Angeles zurück nach Massachusetts gezogen, mit seiner Frau Adelle und den drei Kindern. In seiner eigenen Wahrnehmung ist das idyllische Familienleben mittlerweile kein Gegensatz mehr zum Dasein als Alternative-Ikone, sondern damit verschmolzen. „Ich hatte immer damit zu kämpfen, das Leben, das ich zuhause führe, und die Erlebnisse, die ich auf Platten aufnehme, unter einen Hut zu bringen. Auf dieser Platte ist das zum ersten Mal gelungen“, sagt er.
Man hört das gut in Paws oder dem ebenso organischen Maumee, das nach dem Fluss benannt ist, der durch den Bundesstaat Ohio fließt, wo Barlow aufgewachsen ist. Lows And Highs ist sehr klassischer Folk, den Titelsong Reason To Live kann man ebenfalls als typisch für das Album betrachten: Er ist besonnen, zufrieden und friedlich in der Atmosphäre, aber nicht naiv in der Perspektive. „Die Leute glauben immer, ich sei einer dieser herzzerreißenden, depressiven Typen. Aber diese Platte fühlt sich viel mehr nach der wahren Entsprechung dessen an, was ich bin. Sie zeigt dieses reiche Leben, das ich jetzt habe, voll von Menschen, die ich liebe“, sagt der 54-Jährige. „Die Songs haben in den vergangenen fünf Jahren immer mehr diese Form angenommen und zeigen, dass die Musik wieder ihre zentrale, tröstende Rolle in meinem Leben eingenommen hat. Jetzt bin ich zu Hause.“
Diese Inspiration und (wiedergewonnene) Spielfreude ist in einem Track wie All You People Suck unverkennbar, das auf Tour im Bad eines Hotelzimmers aufgenommen wurde. Natürlich ist der Titel kein pubertärer Generalangriff auf Leute, die im Alltag nerven, sondern äußert stattdessen Verwunderung darüber, dass sie die großen Zusammenhänge nicht sehen. Why Can’t I Wait hört man den ungebrochenen Spaß am Gitarrespielen an, egal ob mit dem Schrammeln, dem Picking oder der schönen Solomelodie. Für die Spontaneität, die in Reason To Live steckt, spricht auch die Durchschnittslänge der Stücke von etwas über zweieinhalb Minuten. Auch das zeigt: Mal eben einen kleinen Song zu schreiben, ist für Lou Barlow wieder das bevorzugte Mittel der Wahl, um seine Gedanken auszudrücken und seine Position in der Welt zu artikulieren. Beispielsweise Over You ist nur 95 Sekunden lang, aber sehr lebendig, How Do I Know wird noch kürzer, aber auch darin stecken viele Ideen.
Dass manche Song-Bestandteile, die Barlow jetzt auf dieser Platte verwirklicht hat, aus vergangenen Jahrzehnten stammen, ist dabei kein Widerspruch. Der Album-Auftakt In My Arms ist so ein Fall und sampelt eine eigene Aufnahme aus dem Jahr 1982. “Im Text geht es darum, dass mich der Funke neu entflammt hat, der mich einst dazu brachte, Musik zu machen“, sagt Barlow, dessen Gesang hier wie Donovan klingt, was sich auch bei den folgenden Liedern immer wieder als Parallele entpuppt.
Gelegentlich baut er, wie in Privatize, auch ein paar elektrische Elemente ein, Thirsty wird spannend und sogar kurz heavy. “Ich wollte persönliche Soft-Rock-Songs machen, mit denen sich die Leute extrem unwohl fühlen“, sagt Barlow verschmitzt. „Ich habe schon immer versucht, diese rohe, persönliche Sensibilität von Hardcore-Songs in eine akustische Klangwelt zu überführen.“ Dank dieser Idee hat das Album auch eine gut funktionierende Dramaturgie, auch wenn Cold One ein Beispiel dafür ist, dass nicht jeder Song der Platte wirklich zwingend ist.
Als Höhepunkt kann man das zärtliche Clouded Age mit seiner sehr schönen, warmen Stimmung betrachten, das sich durch das vorsichtige Schlagzeug und den zweistimmigen Gesang vielleicht gar im Reich des Countryrock verorten ließe. Act Of Faith beschließt die Platte erstaunlich temporeich und heiter, und macht erneut klar, dass spätestens mit Reason To Live das Alterswerk von Lou Barlow beginnt, und dass das gar keine Entwicklung ist, die man bedauern muss. Er selbst sieht das genauso: „Auf diesem Album öffne ich mich wirklich, und die Platte zeigt das durch ihre vielen verschiedenen Themen. Einige meiner älteren Arbeiten könnten fast klaustrophobisch nennen in ihrem Beharren darauf, dass alles zusammenhängt. Aber in diesen neuen Songs gibt es Raum für Menschen, die darin leben.“