Künstler*in | Marika Hackman | |
Album | Big Sigh | |
Label | Chrysalis | |
Erscheinungsjahr | 2024 | |
Bewertung | Foto oben: (C) Beats International / Steve Gullick |
Googelt man nach Bildern von Marika Hackman, findet man sie häufig mit einer Gitarre in der Hand. Liest man Kritiken zu ihren bisher drei Alben wie dem hoch gelobten Vorgänger Any Human Friend (2019), werden dort vor allem die Texte gepriesen und seziert. Es ist also ziemlich überraschend, dass einer der erstaunlichsten Tracks auf dem heute erscheinenden Big Sigh ein Klavierstück namens The Lonely House ist, das auch noch als Instrumental daher kommt. Also: keine Gitarre, kein Text.
Aber die 1992 geborene Britin hat auf ihrer nach eigenen Angaben „härtesten Platte“ einige Dinge anders gemacht. Natürlich gibt es auch hier wieder Momente voll subtiler Spannung (Please Don’t Be So Kind), wunderhübsche Melodien wie im akustischen Schlusspunkt The Yellow Mile oder Stücke, die im Kern letztlich eine Grunge-Hymne sind wie der Titelsong. Aber neben dem diesmal stärker im Fokus stehenden Piano hat sich die Arbeitsweise und damit der Sound von Marika Hackman beträchtlich verändert.
Sie hat alle Instrumente außer den Bläsern und Streichern selbst eingespielt und Big Sigh zudem selbst produziert, gemeinsam mit Sam Petts-Davies (Thom Yorke, Warpaint) und ihrem treuen Mitstreiter Charlie Andrew. „Ich mochte es, ein Schwamm zu sein, und betrachte die ersten zwei Drittel meiner Karriere als Lernerfahrung: Ich lehnte mich etwas zurück, um die Dynamik wirken zu lassen. Mit diesem Album kam ich an einen Punkt, an dem ich merkte, dass ich ausgelernt hatte und wusste, was zu tun war“, sagt sie. Auch bei den Lyrics hat sie ganz bewusst einen neuen Ansatz gewählt. „Die Art und Weise, wie ich auf dieser Platte über Liebe und Sex geschrieben habe, unterscheidet sich sehr von Any Human Friend„, betont sie. Statt mit „sexy Spaß und viszeraler Geilheit“ blicke sie diesmal sensibel und nachdenklich auf das Thema, wobei man manchmal an Anna Calvi denken kann.
Ein Beispiel dafür ist das zugleich komplexe und unmittelbare Slime. „Es ist eine Reflexion über die Zerstörung, die verursacht werden kann, wenn man mit jemandem zusammenkommt und andere Faktoren im Spiel sind. Auf der einen Seite gibt es eine neue Sache, die wirklich aufregend und heiß und lustvoll ist, aber es kann auf der anderen Seite auch eine Menge Gewitterwolken geben, die umherschweben, eine Menge sozialer Rückschläge“, sagt das einstige Burberry-Model dazu. Blood entfaltet ebenfalls eine unnachahmlich erotische Atmosphäre, spielt mit Vampirismus und gipfelt in der Warnung: „I don’t believe you’re having fun / I can’t rely on anyone / I won’t be holding you for long / don’t hold on.“
Die wichtigste Neuigkeit und der wirkungsvollste Einflussfaktor in der Entstehungsgeschichte von Big Sigh war allerdings Corona. Marika Hackman war seit ihren ersten Releases im Jahr 2012 unentwegt als Musikerin auf Achse. Sie schrieb Songs, spielte Konzerte, war im Studio oder gab Interviews. Anfang 2020 kam all das zum Stillstand. Damit fehlte ihr nicht nur ihr Job, sondern auch ihre wichtigste Möglichkeit, innere Konflikte zu verarbeiten, wie sie es bisher immer in ihrer Musik getan hatte. „Ich habe ziemlich starke Angstzustände. Normalerweise ist das zu bewältigen, aber während der Pandemie zwei Jahre lang keine Kontrolle zu haben, war unmöglich.“
Das Ergebnis war eine Schreibblockade. Sie nahm zwar Coverversionen ihrer Lieblingslieder auf und notierte ein paar Ideen, aber ein kompletter Song schien weit außerhalb des Möglichen zu sein. Das änderte sich erst nach über einem Jahr, das Schlüsselerlebnis hatte die Künstlerin dabei ausgerechnet auf einem Kneipenklo. „Ich hatte an diesem Tag zu Hause einen Song geschrieben und ihn schnell auf meinem Handy aufgenommen. (…) Als ich in der Kneipe war, ging ich auf die Toilette, um ihn mir anzuhören, und stellte fest, dass er ein Knaller war. Mir lief vor lauter Erleichterung das Wasser im Mund zusammen. Mir wurde klar, dass ich es geschafft hatte“, erinnert sie sich. Besagter Song ist Hanging, er handelt vom Ende einer Beziehung und stellt ebenfalls das Klavier in den Mttelpunkt, direkt neben die Selbstanklage: „Somebody good shouldn’t feel so bad / well, I must’ve done something to deserve to feel this sad.“
In No Caffeine, das von einem sehr kraftvollen Beat vorangetrieben wird, scheint auch noch ein Bezug zu Covid-19 zu stecken. Es geht im Text um all die kleinen Vorschriften und Konventionen und Erwartungen, die in Summe schnell erdrückend wirken können, zum Teil wohl auch um all die kleinen Fluchten, die während der Pandemie nicht mehr möglich waren. The Ground eröffnet das Album mit nur einer einzigen Textzeile („Gold is on the ground, I was happy for a while“) erst verwunschen, dann hypnotisch, dann erhaben, am Ende mächtig verzerrt. Ein ähnlicher Effekt lässt sich dann auch in Vitamins beobachten, das ebenso minimalistisch wie experimentell daher kommt. Und was Marika Hackman mit „Härte“ meint, wenn sie über diese Platte spricht, unterstreichen spätestens die Anfangsverse in diesem Song: „Mum says I’m a waste of skin / a sack of shit and oxygen / empty seed in a can of earth / I’m a fucked up cradle for the afterbirth / but dad thinks I could be something / if I eat my vitamins.“
„Es hat lange gedauert, dieses Album zu machen.Es war nicht einfach, und als ich am Ziel angelangt war, war ich ruhig“, blickt sie heute zurück. „Ich wollte Abstand davon gewinnen und es in seinem eigenen Raum ruhen lassen. Jetzt hat sich der Staub gelegt und ich kann wieder in die Welt von Big Sigh eintauchen, und ich bin begeistert.“