Er liegt auf dem Boden. Er stützt sich auf seinen Bassisten. Er fällt beinahe von seinem Podest. Keine Frage: Marilyn Manson ist nicht allzu gut in Form an diesem Abend in Leipzig. Mehr noch: Er ist ziemlich im Arsch. Und er hat beim ersten Konzert seiner Europatournee offensichtlich wenig Lust, sich irgendwie anzustrengen.
Man kann das schade finden. Im Intro weist ein reuiger Sünder darauf hin, dass die Hölle genauso real ist wie der Himmel, und am Ende dieser Show scheint zumindest die Luft im Haus Auensee diese These bestätigen zu wollen. Zu Beginn wird Marilyn Manson frenetisch begrüßt und weist dankbar darauf hin, dass er vor 15 Jahren zuletzt in Leipzig gespielt hat. Er hat auch ein paar der Gimmicks mitgebracht, die ihn damals schon auszeichneten und ihn zum am meisten gefürchteten Schockrocker seit Alice Cooper gemacht haben. Besagtes Podest gehört dazu (an dessen Front zum Glück nur ein Runen-S prangt), ein Auftritt auf Stelzen und bei einigen Songs ein zusätzlicher Trommler auf der Bühne, der Gitarre, Bass, Schlagzeug und den Pale Emperor (so der aktuelle Albumtitel) höchstselbst unterstützt.
Seine Bühnenkostüme sehen aus wie die Outfits, die man in Leipzig einmal im Jahr von den eher dezenten Besuchern des Wave Gotik Treffens vorgeführt bekommt. Strapse lässt Marilyn Manson mittlerweile ebenso zuhause wie seine Gasmaske. Dafür trägt er kurz einen Hut, den er dann ins Publikum wirft. Und er hat eine ziemlich spektakuläre Lichtshow mitgebracht. Nicht zuletzt gehören zu seinem Arsenal reichlich legendäre Rocksongs, deren Intelligenz noch immer gerne unterschätzt wird. Wenn er die verzerrten Passagen zum Besten gibt, ist er zwar kaum zu verstehen, die ruhigeren Parts machen dafür umso mehr deutlich, was für ein wunderbar subtiler, fieser und manipulativer Sänger (jawohl!) Marilyn Manson sein kann.
Trotzdem zeigt die Show in Leipzig auch: Marilyn Manson braucht mittlerweile seine Biografie und sein Image um ein eindrucksvolles Konzerterlebnis hinzubekommen. Er ist, auch im Haus Auensee, das personifizierte Böse. Er ist Perversion, Anarchie, Provokation, Rebellion. Er ist damit, und das hat wohl die meisten der Fans hierher gelockt, die ultimative Freiheit. Genauso ist er eine wandelnde Anklage gegen Bigotterie, Feigheit und Pragmatismus. Marilyn Manson hat der Political Correctness schon den Krieg erklärt, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Aber lässt man all das weg, die Skandale um Columbine, Sadomaso, Blasphemie und Dita von Teese, dann bleibt an diesem Abend nicht mehr allzu viel Charisma übrig – und schon gar kein Entertainment.
Stattdessen steht da ein 46-Jähriger auf der Bühne, der eindeutig nicht hier sein möchte und kein bisschen mit sich und der Welt im Reinen ist. Zwischendurch dankt er Deutschland „for creating cocaine“, er verschwindet in den Pausen (und manchmal auch während der Songs) immer wieder am Bühnenrand und als er sich für die lange Wartezeit bis zur Zugabe entschuldigt, begründet er sie damit, jemand habe ihm „Badesalz in sein Pulver gestreut“. Das mag erklären, warum Manson so derangiert wirkt. Trotzdem wird es dadurch nicht leichter, bei diesem Konzert begeistert zu sein.
Wenn man dann nach anderthalb Stunden das Haus Auensee verlässt, fühlt sich das trotzdem nicht unbedingt wie eine Enttäuschung an. Denn es wird klar: Man will Marilyn Manson nicht als einen Vollprofi, der zwar keinen Bock hat, aber sich wenigsten Mühe gibt, seine Unlust zu kaschieren und zum Wohle der Fans eine routinierte Show hinzulegen.
Man will, dass er kaputt ist. Man will, dass er sein Talent „to fuck things up“ auslebt, wie er das in Leipzig nennt. Man will, dass er in den Pausen im Dunkel der Bühne verschwindet, damit man ihn nicht bei ordinären Tätigkeiten wie Trinken, Koksen, Schweißabwischen oder Durchatmen sehen muss, sondern zu 100 Prozent eine außerirdische, schockierende, anziehende Kunstfigur bleiben kann. Man will das Gefühl haben, dass ein Konzert von ihm jederzeit zu Ende sein kann, einfach weil er genug davon hat und seine eigene Show, seine eigenen Fans, die ganze Welt nicht mehr erträgt.
So einen Abend liefert Marilyn Manson in Leipzig. Wenn er sich nach diesem Auftritt, in dem unfassbar viel Wut, Verdrossenheit und Ekel stecken, die Pulsadern aufschneiden sollte, würde das bloß konsequent wirken – und wenn man mit diesem Gedanken nach Hause geht, hat Marilyn Manson seine Botschaft eindeutig besser rübergebracht als er es mit einem perfekten Rock-Spektakel wohl jemals schaffen könnte.