Marissa Nadler – „For My Crimes“

Künstler Marissa Nadler

For My Crimes Marissa Nadler Review Kritik
Das Aus ihrer Ehe behandelt Marissa Nadler auf „For My Crimes“.
Album For My Crimes
Label Bella Union
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

Ein Auto fährt weg. Es ist eine Szene, die so banal und gewöhnlich ist, dass es als törichte Idee erscheint, daraus ein Lied machen zu wollen. Marissa Nadler macht es dennoch und triumphiert. Said Goodbye To That Car beschließt ihr achtes Album For My Crimes und ist zugleich der Höhepunkt dieses Werks: Ein Auto fährt weg – bei ihr wird daraus eine Situation, die einen Einschnitt bedeutet, nach dem nichts mehr sein wird wie zuvor. „119 657 and the enginge blew / 119 657 and I thought of you / say goodbye to that car“, blickt sie dem Fahrzeug mit besagtem Kennzeichen nach. Trotz all der Erinnerungen, die darin stecken und hier heraufbeschworen werden, ist es natürlich nicht das Auto, dessen Verlust so tragisch ist, sondern der Fahrer, der darin sitzt, fortfährt und nicht mehr zurückkommen wird. Nach den zehn Liedern, die vorangegangen sind, wissen wir: Dieser Fahrer ist der Mann, mit dem Marissa Nadler verheiratet war. Mit ihm fährt eine Liebe weg, an die sie geglaubt, um die sie gekämpft hat – all das ist in diesem einen Moment zusammengefasst.

Das Aus dieser Beziehung dominiert als Thema die Lieder auf For My Crimes. Sie hat das ganze Jahr 2017 über neue Songs geschrieben, oft über die Schwierigkeiten, eine Beziehung aufrecht zu erhalten, während man auf Tour und somit weg von Zuhause ist. Dann kam noch einmal ein neuer Schwung weiterer Songs hinzu, kurz bevor es mit den Co-Produzenten Justin Raisen and Lawrence Rothman ins Studio ging.

I Can’t Listen To Gene Clark Anymore (eines von zwei Liedern, bei denen Sharon Van Etten im Hintergrund singt, und eines von vielen auf dieser Platte, die durch die tollen Streicher von Janel Leppin veredelt werden), ist ein ähnlich intensiver Monent. Das hier besungene Phänomen: Man hat einen Lieblingskünstler, den man nun aber so stark mit einer unglücklichen Liebe assoziiert, dass er unhörbar wird. Are You Really Going To Move To The South behandelt Erinnerungen, Schmerz, Leere und eine Entscheidung, „that took the air out of my lungs for weeks“.

Interlocking blickt mit grandiosem Picking auf der E-Gitarre auf eine Verbindung, die einst ersehnt und gewünscht war, sich jetzt gelöst hat und trotzdem nicht ganz verschwunden ist. You’re Only Harmless When You Sleep wird zum Dokument maximaler Entfremdung (und erinnert daran, dass der 2016 veröffentlichte Album-Vorgänger bereits Strangers hieß). Lover Release Me macht klar, dass nicht nur des Ende dieser Liebe schlimm war, auch die Zeit davor war es, mit all den vergeblichen Versuchen, sie zu retten. All Out Of Catastrophes schließlich ist ein schmerzhaft ehrlicher Blick auf die Eskalation der Krise, die nicht völlig unvorhergesehen kam, auf die aber trotzdem keiner der Beteiligten vorbereitet war.

Der Sound dazu ist manchmal im bei ihr vertrauten Milieu von Folk und Country (Flame Thrower), erstaunlich oft greift Marissa Nadler hier aber zu ungewohnten, härteren Sounds. Blue Vapor zeigt das am deutlichsten: Die Harmonies singt sie mit Kristin Kontrol von den Dum Dum Girls, die Gitarre ist verstärkt. Düster und kraftvoll wird das Lied damit schon, bevor das erstaunlich wenig überraschende Schlagzeug einsetzt. Eine weitere Besonderheit: Vielleicht auch, weil die Künstlerin von Männern erst mal die Nase voll hat, sind hier (bis auf einen Mann am Saxofon) ausschließlich Frauen zu hören.

Eine besonders prominente davon ist Angel Olsen, die im Titelsong die zweite Stimme beisteuert. For My Crimes singt Marissa Nadler aus der Sicht eines zu Tode Verurteilten, der viel Gefasstheit und Fatalismus ausstrahlen will, aber keine Reue und erst recht keine Unschuldsbeteuerung. “Please don’t remember me for my crimes”, heißt es lediglich, schließlich werden die Streicher am Ende so schmerzhaft und unmenschlich, wie es die Vollstreckung des Urteils ist. Vielleicht als Gegenpol dazu kann Dream Dream Big In The Sky gelten, in gewisser Weise ebenfalls ein thematischer Ausreißer: Die Stimme von Marissa Nadler klingt hier noch schöner, nicht zuletzt dadurch entsteht ein Moment der Harmonie und Sicherheit – auch wenn er nur erträumt ist.

Auch am Video zu I Can’t Listen To Gene Clark Anymore waren nur Frauen beteiligt.

Für einen Termin kommt Marissa Nadler bald nach Deutschland:

26.10. Berlin – Musik & Frieden

Website von Marissa Nadler.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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