„Is everyone okay?“, fragt Marissa Nadler nach Drive, dem zweiten Lied dieses Abends im UT Connewitz. Es ist eine rhetorische Frage, in mehrfacher Hinsicht. Erstens hat das Publikum die ersten beiden Lieder (Poison hatte die Show eröffnet) ebenso konzentriert wie innig verfolgt, und das wird auch den ganzen Abend über so bleiben. Es ist offenkundig, wie sehr die Fans in Leipzig es genießen, diese Künstlerin live erleben zu können. Zweitens wird wohl niemand im Saal voll und ganz okay im Sinne von „sorgenfrei, quietschfidel“ sein. Wer im Leben keine Schattenseiten sieht (oder erlebt hat), dürfte kaum den Reiz in der Musik der 38-jährigen Singer-Songwriterin aus Boston erkennen können.
Ballads Of Living And Dying hieß schließlich vor 15 Jahren ihr erstes Album, Little Hells folgte fünf Jahre später, For My Crimes heißt die aktuelle Platte, auch für die dunkleren Spielarten von Metal hat Marissa Nadler immer wieder ihre Faszination gezeigt. Man kann es bezeichnend finden, dass sie ihre Gitarre im Konzert auch bei den kraftvolleren Momenten wie Strangers nicht mit einem Plektrum anschlägt, sondern mit bloßen Händen. Wer selbst Gitarre spielt, der weiß: Das endet entweder in Schmerz oder in Hornhaut als Schutz vor noch mehr Schmerz.
Es ist also auch kein Wunder, dass man beim Auftritt in Leipzig auch etliche Besucher aus der schwarzen Szene im UT Connewitz trifft, dessen morbide Atmosphäre wunderbar zu dieser Musik passt. Marissa Nadler selbst trägt ebenfalls ein schwarzes Kleid und setzt auf Bühnenlicht, das ihr Gesicht fast durchweg im Schatten belässt. Abwechselnd spielt sie eine elfenbeinfarbene Fender Jaguar und eine zwölfsaitige Gitarre, sowohl ihre Stimme als auch das Instrument loopt sie gelegentlich (wie es schon Brother Grimm im Vorprogramm eifrig getan hat). Manchmal legt sie verträumte Soli darüber (die tatsächlich manchmal an Mark Knopfler denken lassen), die meiste Zeit über gibt es aber genau das, wofür die meisten Fans in Leipzig wohl gekommen sind: Gitarre und diese einmalige Stimme, der sie live noch mehr Tremolo verleiht als auf Platte.
Sehr klar wird an diesem Abend auch, dass Marissa Nadlers eigene Antwort auf die Frage, ob sie okay ist, mindestens ambivalent ausfällt. Es ist ihre erste Soloshow auf dieser Tour, bei der sie zuvor stets mit Band aufgetreten war. Die Aufgabe, nun eine Bühne ganz alleine ausfüllen zu müssen, bereitet ihr unverkennbar Unwohlsein. Vielleicht zur Beruhigung trinkt sie unmittelbar vor der Show noch ein Glas Rotwein, der Frage nach dem Wohlbefinden des Publikums lässt sie bezeichnenderweise den Hinweis „You can leave, if you want“ folgen. Sonst gibt es häufig sehr lange Pausen zwischen den Liedern, in denen sie ihre Gitarre stimmt und schweigt. In den wenigen Ansagen entschuldigt sie sich dafür, dass sie kein Deutsch kann, weil das an keiner einzigen amerikanischen Schule gelehrt werde, oder kündigt Blue Vapour einigermaßen ironisch als „happy song“ an.
Später bittet sie das Publikum sogar darum, ihr etwas mehr Energie zu geben, weil ihr die neunstündige Anreise zu diesem Konzert noch in den Knochen steckt. In der Tat bleibt der Abend eher andächtig als dynamisch. Das liegt allerdings auch daran, dass Marissa Nadler erst um 22 Uhr auf die Bühne kommt, nachdem Brother Grimm als Opener sich eine runde Dreiviertelstunde lang betätigen durfte. Ihn schon um 20 Uhr auftreten und kürzer spielen zu lassen, um dann selbst eher beginnen zu können, hätte sicher geholfen, um beim Publikum und ihr selbst an diesem Samstagabend etwas mehr Energie zu bewahren oder zu erzeugen.
Enttäuscht geht dennoch sicher niemand, als Marissa Nadler mit Firecrackers den regulären Teil des Sets beschließt. Zum einen ist es wirklich ein Erlebnis, ihren Gesang live zu hören (gerade, wenn sie mittels Loop mit sich selbst Harmonien singt, muss man es sagenhaft schade finden, dass sie nie mehr Teil eines Leonard Cohen-Backgrounds wird sein können), zum anderen kann man im Konzert gut nachvollziehen, wie ihre Lieder entstehen, Schicht für Schicht – und im Ergebnis manchmal magisch, aber immer deutlich mehr als okay.