Künstler*in | Matthew E. White & Lonnie Holley | |
Album | Broken Mirror: A Selfie Reflection | |
Label | Spacebomb | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Dass sich Matthew E. White und Lonnie Holley für eine musikalische Zusammenarbeit gefunden haben, ist ziemlich erstaunlich. Noch erstaunlicher ist, was sie – unterstützt von Co-Produzent Adrian Olsen – in den fünf Stücken des heute erscheinenden Broken Mirror: A Selfie Reflection gemeinsam veranstalten.
Der eine, White, hat 2015 viel Lob für sein zweites Album Fresh Blood eingefahren, wollte passend zu dessen Titel dann aber gerne wieder etwas ganz anderes ausprobieren. Er lud sieben befreundete Musiker in ein Studio in Richmond, VA, ein. Dort gönnten sie sich ausgiebige Jam-Sessions, die vor allem auf Rhythmus setzten, schließlich gab es mit Pinson Chanselle (Schlagzeug), Giustino Riccio (Percussions) und Brian Jones (Percussions) gleich drei Leute an den Schlaginstrumenten, dazu Bassist Cameron Ralston. Außerdem waren Devonne Harris und Daniel Clarke an den Tasteninstrumenten sowie Gitarrist Alan Parker dabei. Trotz dieser üppigen Besetzung und reichlich entstandenen Materials stellte Matthew E. White am Ende fest: Irgendetwas fehlt noch. Die Aufnahmen wanderten deshalb erst einmal ins Archiv.
Und hier kommt der andere ins Spiel, Lonnie Holley. Mit seinen 70 Jahren ist er fast doppelt so alt wie White, sein Metier ist eher die bildende Kunst, vor allem Bildhauerei, aber auch Zeichnungen, Malerei, Fotografie und Objektkunst. Nachdem er bei Performances immer wieder auch musiziert hatte, veröffentlichte er 2012 sein erstes Album. Er ist ein ungewöhnlicher musikalischer Partner für White. Was die beiden vereint, ist nicht nur die gemeinsame Herkunft aus Alabama, sondern auch die Vorliebe für die Arbeit mit Versatzstücken.
Als sie in Kontakt gekommen waren, fielen White die Aufnahmen aus den Sessions in Richmond wieder ein. Er hatte den Verdacht, dass Holleys einzigartige Stimme genau das fehlende Puzzleteil für diese Stücke sein könnte. Und so wagten sie gemeinsam ein Experiment: Während White ihm die Aufnahmen vorspielte, improvisierte Holley live Texte und Melodien dazu, teilweise unter Einsatz seines Notizbuchs, in dem er stets ein paar Ideen festhält. So entstanden die Gesangs-Parts für Broken Mirror: A Selfie Reflection, ohne dass der Sänger die Musik jemals vorher gehört hatte.
Der Auftakt This Here Jungle Of Moderness / Composition 14 zeigt gut, wie die im Durchschnitt fast acht Minuten langen Tracks funktionieren. Der Bass verleiht der Komposition die nötige Struktur, die Percussions sind sehr freigeistig, eine flirrende Orgel sorgt für zusätzliche Spannung. Das Ergebnis wirkt eher brodelnd und lebendig als (was bei so einer Konstellation natürlich auch möglich gewesen wäre) selbstverliebt und unstrukturiert. Das wabernde I’m Not Tripping / Composition 8 zeigt am ehestens die Geistesverwandtschaft dieser Musik zur Arbeitsweise und Ästhetik von Dub, der Abschluss Get Up! Come Walk With Me / Composition 7 rückt durch das verschleppte Tempo in die Nähe von TripHop.
Der Titelsong Broken Mirror (A Selfie Reflection) / Composition 9 demonstriert einerseits, wie großartig es Holley gelingt, mit wenigen Worten große Themen zu behandeln und seinen improvisierten Texten eine erstaunliche Tiefe zu geben. „So many different cities / in this here nation / look like looking in a broken mirror“, heißt es darin, später wird die Metapher des zerbrochenen Spiegels auch für übersteigerte Selbstliebe oder -Inszenierung via iPhone und Instagram genutzt. Dass daraus ein wenig Kulturpessimismus und nicht wenig Technologiefeindlichkeit spricht, sei einem 70-Jährigen verziehen. Ärgerlicher ist schon, dass ausgerechnet bei diesem Song mit seinem schrägen Groove klar wird: Das ist unbestreitbar interessant, aber hat beim Erschaffen sicher mehr Spaß bereitet als es jetzt beim Anhören macht. Dafür zeigt I Cried Space Dust / Composition 12 mit den sehr kraftvollen Trommeln und der im Vergleich beinahe schüchternen Orgel, wie gut diese musikalische Paarung letztlich funktioniert: Es klingt, als sei diese Musik gezielt für genau diese Stimme gemacht worden, und als existiere diese Stimme extra für genau diese Musik.