Künstler | Melody’s Echo Chamber | |
Album | Bon Voyage | |
Label | Domino | |
Erscheinungsjahr | 2018 | |
Bewertung |
Nach Deutschland ist Schweden das Land innerhalb der EU, das in den vergangenen Jahren die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Melody Prochet zählt in gewisser Weise ebenfalls dazu. Die Französin, die 2012 ihr gefeiertes Debütalbum als Melody’s Echon Chamber vorgelegt hatte, floh allerdings nicht vor Krieg, Armut oder Unterdrückung. Vielmehr ergriff sie die Möglichkeit, einer Sackgasse zu entkommen, als sie 2015 bei einem Festival einige schwedische Musiker kennenlernte. Im Jahr darauf folgte sie Fredrik Swahn (The Amazing) und Reine Fiske (Dungen) in deren Heimat.
Die beiden neuen Freunde preist sie noch heute als „Seelenverwandte und extreme Wesen, die auf kompromisslose Weise intensiv und einfühlend sind“. Schnell hatten sie eine sehr enge Verbindung aufgebaut. „Wir haben uns selbst das ‚Bermuda-Dreieck‘ genannt, weil wir uns immer komplett in der Musik verloren haben, sobald wir zusammen waren. Das war wie eine Offenbarung, für uns alle. Es hat sich auch sehr gut angefühlt, so eine Verbindung zu Männern aufzubauen, die Frauen als gleichberechtigt behandeln und die viel Vertrauen in mein Talent und meine Empfindsamkeit hatten. Das hat mir geholfen, mein Selbstvertrauen als Musikerin wieder zu finden“, sagt Melody Prochet über die Phase, die zum Ausgangspunkt für Bon Voyage, ihr morgen erscheinendes zweites Album, werden sollte.
Abhanden gekommen war ihr die Selbstsicherheit beim Versuch, gemeinsam mit Kevin Parker – mit dem sie schon beim Debüt zusammengearbeitet hatte – einen Nachfolger hinzubekommen. Nach vielen Mühen mussten beide eingestehen, „dass das nicht sein sollte“. Ein paar der Stücke aus diesen Sessions schafften es immerhin auf die nur online veröffentlichte EP From Pink They Fell Into Blue (2016). In Schweden traf sie dann auf eine riesige kreative Gemeinschaft rund um Swahn, Fiske und ihre Bands und fühlte sich auch selbst neu inspiriert. Unter anderem lernte sie Schlagzeugspielen und nahm auch die Geige wieder zur Hand, die sie zuletzt als Grundschulkind gespielt hatte.
Das Ergebnis? Ein äußerst ideenreiches Kaleidoskop, in dem die Freude an der Möglichkeit, sich mittels Instrumenten kreativ ausdrücken zu können, förmlich zu greifen ist. Der Auftakt Cross My Heart macht das bereits deutlich: Der Anfang des Lieds könnte ins Frühwerk der Cardigans passen, nicht nur wegen des gehauchten Soprans, sondern auch wegen der Easy-Listening-Romantik. Dann erklingt plötzlich ein Old-School-HipHop-Break, danach wird der Song funky (ausgerechnet mit Panflöten und französischem Gesang) und zum Ausklang der fast sieben Minuten gibt es obendrauf noch so etwas wie orientalisierten Rock.
Desert Horse mit Gustav Ejstes (Dungen) an den Turntables ist ganz ähnlich geraten. „Dieses Stück war ein Monster. Von allen Liedern ist es wahrscheinlich am verrücktesten, schätze ich, weil es überhaupt keinem vertrauten Format folgt. Es thematisiert meinen schwierigen Lebensweg über die letzten Jahre, durch meine eigene Wüste voller Herzschmerz, Durst, Halluzinationen, Treibsand, Ernüchterung und die Erkenntnis, dass ich eine erwachsene Frau in einer durchgedrehten Welt geworden bin. In meinen Augen ist das beinahe ein bisschen Punk.“ Dem kann man sich anschließen, auch wenn das Lied fast mit jedem Takt das Genre zu wechseln scheint. Es gibt Groove, Jungle, Durchschnaufen, Elektrofunk, Schreien und Säuseln, es wird heavy und exotisch – dieses Wüstenpferd muss ein Chamäleon sein.
Auch, wenn die Stücke etwas weniger komplex sind wie Breathe In, Breathe Out, das eine große Heiterkeit ausstrahlt, oder die Single Shirim als sehr tanzbarer Abschluss von Bon Voyage, kann man stets unzählige Details und sehr subtile Variationen finden. Als Vorbild dazu hat sich Melody Prochet nichts Geringeres als Ravels Boléro genommen. „Du hörst es an und denkst, das sei immer dieselbe Figur, die ständig wiederholt wird. Aber man langweilt sich dabei nicht, weil es in Wirklichkeit bei jeder Wiederholung kleine Veränderungen in der Orchestrierung gibt, die dich austricksen. Ich liebe dieses Konzept!“
Ein Song wie Quand Les Larmes D’un Ange Font Danser La Neige (mit Nicholas Allbrook von Pond) zeigt, wie sie das bei Melody’s Echo Chamber umsetzt: Das Lied hat eine recht gut erkennbare (Prog-)Rock DNA, als hätten sich Genesis in den 1970ern entschieden, nicht den Schlagzeuger ans Mikrofon zu stellen, sondern jemanden, der leicht, verträumt und märchenhaft klingt. Womöglich hat dazu auch die Gegend beigetragen, in der das Album entstanden ist. „Die schwedische Landschaft hat mir sehr geholfen, wieder aufatmen zu können, und herunterzuommen, wenn ich besonders gestresst war. Nur drei Minuten von meinem Haus entfernt gibt es einen majestätischen Wald mit einem See. Im Sommer habe ich dort Beeren gepflückt, im Winter bin ich durch den Schnee spaziert und habe jedes Mal ein paar wunderschöne Rehe getroffen.“
Wohl auch ein bisschen als Dankeschön an diese heilsame Wirkung ihres Exils singt sie in Var Har Du Vart, das von Gustav Ejstes geschrieben wurde, in (ziemlich glaubwürdigem) Schwedisch, begleitet nur von einer akustischen Gitarre. „Ich war auf so etwas wie einer Pilgerfahrt in der Hoffnung, eine Umgebung voller Anmut, Sanftheit und Verzauberung zu finden, das meine Kreativität wieder freisetzen würde“, sagt Melody Prochet – und lässt keinen Zweifel daran, dass sie in Schweden fündig geworden ist. „Für uns alle waren diese Sessions eine Pause in unserem Leben. Eine kleine Flucht aus unseren Frustrationen als junge Erwachsene, Eltern, Musiker und verbitterte Lebenskünstler. Was sich daraus entwickelt hat, ist so etwas wie ein modernes Märchen voller Dualität: schön und entzaubert, glücklich und schmerzhaft, introvertiert und extrovertiert, kindisch und reif, aber zugleich auch gewalttätig und maßvoll. Wir hatten keine Struktur und keine Grenzen und haben das genutzt, um unsere Komfortzonen zu verlassen.“
Dieses Zitat fasst Bon Voyage nicht nur gut zusammen, sondern zeigt auch, wie gefährlich dieses Konzept ist, wie leicht Künstler mit weniger Talent und Eigenständigkeit als Melody’s Echo Chamber dabei im Chaos hätten versinken können. Bei ihr kann davon keinerlei Rede sein, wie nicht zuletzt Visions Of Someone Special, On A Wall Of Reflections beweist: Das Lied könnte man in der Strophe als Lounge-Musik bezeichnen, wäre da nicht eine sehr brutale E-Gitarre, die sich rechts daneben gesellt. Die anderen Teile spielen mit Genres, Rhythmen und Instrumentierung so abenteuerlich, sodass bald nur noch ein Begriff dafür plausibel erscheint: Kunst.