Kein Mensch hatte darauf gewettet, aber es gab tatsächlich keinen Regen am ersten Tag des Melt. Und das verschuf dem Festival in Ferropolis wieder reichlich Gelegenheit, sich noch ein bisschen näher an den Titel „Bestes Festival der Welt“ heranzupirschen. Denn es ist nicht nur trocken, sondern hochkarätig (das Programm), schick (das Publikum) und außergewöhnlich (die Location). Was haben wir also gelernt am ersten Tag des Melt?
1. Hüpfen ist das neue Tanzen.
2. Seifenblasenmachen ist das neue Kiffen.
3. Keyboards sind die neuen Gitarren. Hinter den Kulissen sind sie das schon lange, und gerade das Melt in diesem Jahr beweist, dass Indie längst nicht nur Rock mit Elektro anreichert, sondern sich das Kräfteverhältnis eher umgekehrt hat: Die Beats und der Entstehungsprozess sind bei Robyn oder den Koletzkis, bei We Have Band und The Naked And Famous der elektronischen Musik entnommen, Rock ist ganz oft nur noch ein Anker, ein Gestus. Neu ist allerdings, dass sich nun auch die Performance umkehrt. Everything Everything aus Manchester haben zwar eine fast klassische Rock-Besetzung, aber ganz vorne in der Mitte steht in ihrer Show das Keyboard. Auch The Naked And Famous haben die Tasteninstrumente ins Zentrum ihres Bühnenbilds gerückt – Gitarren gibt es hier nur noch am Rande.
4. Das veränderte Bühnenbild ist auch deshalb möglich, weil fast alle Bands neuerdings Großmeister im Multitasking sind. Gleichzeitig Gitarre und Keyboard spielen, dazu noch den Loop für den nächsten Part starten und singen? Kein Problem für eine Generation, die schließlich auch twittert, während sie chattet und YouTube schaut, während sie die automatische Gesichtserkennung bei Facebook ausschaltet. Nicht erst lernen und den Dingen auf den Grund gehen, sondern alles ausprobieren, alles gleichzeitig – das ist das Prinzip. Und wenn ein paar Teile dabei nicht live sind, sondern aus der Konserve kommen, dann ist das im Copy-and-Paste-Zeitalter auch kein Problem.
5. Schnauzbärte sind wieder schwer angesagt, vor allem bei Mädchen. Oder irgendjemand hatte wegen des geplatzten Sommermärchens ganz viel Schminke übrig, hat rot und gold weggeworfen und dann den ganzen jungen Damen am Einlass eine nette schwarze Rotzbremse unter die Nase gemalt.
6. Is Tropical klingen (in ihrem Bandnamen und mit ihren Songs) nach Sommer, funktionieren aber auch bestens im Zelt an einem Frühabend mit bedecktem Himmel. Feine Show – und sehr schöne Tarnung, diesmal mit Tüchern, die im Western-Bankräuber-Stil bis über die Nase gezogen waren.
7. Sizarr sind absurd schlecht.
8. Die oben genannte Multitasking-Mentalität offenbart live auch eine Schwäche: Dank GarageBand, ProTools und Autotune reicht es heute manchmal schon, in erster Linie technisches Know-How zu haben, um einen tollen Popsong hinzubekommen. Ein Naturtalent muss man beileibe nicht mehr sein, und das führt dazu, dass beim Melt gleich mehrfach auffällt, wie schlecht mitunter gesungen wird. Jonathan Higgs von Everything Everything beispielsweise sollte dringend jemand ein bisschen Training für seine Kopfstimme anbieten.
9. Auch Thom Powers von The Naked And Famous hat so seine Probleme, die richtigen Töne zu treffen (wohingegen seine Kollegin Alisa Xayalith mit jeder Note betörender und mit jedem Wort noch ein bisschen mehr nach Björk klingt). Trotzdem legen die Neuseeländer eine tolle Show hin. Ihr Konzert erinnert nicht nur ein bisschen an den Auftritt, den The XX hier im vergangenen Jahr gespielt haben: Da ist eine Band, die ganz außergewöhnlich ist und doch massenkompatibel, mit einem extrem ausgereiften Sound und der Ahnung, dass da trotzdem noch ganz viel Potenzial ist. Ihr Girls Like You ist der beste Song überhaupt am ersten Tag beim Melt, dann bringt der Hit Punching On A Dream noch mal eine Extra-Dosis Euphorie.
10. Johnny von den Drums glänzt hingegen auch als Sänger. „We are going to play some pop songs“, verspricht er zu Beginn – und genau das machen die Drums dann auch. Es gibt ein paar Lieder vom gerade vollendeten neuen Album (sehr überzeugend: Money). Und die sagenhaft intensive Performance von Down By The Water ist ein Traum. „We Melt Your Heart“ steht als Motto der 14. Auflage des Festivals über der Hauptbühne in Ferropolis – in diesem Moment stimmt das definitiv.
11. In den Umbaupausen wird beim Melt einfach weitergetanzt, teilweise nicht weniger enthusiastisch als während der Konzerte oder DJ-Sets. Hoffen wir nur, dass die Macher nicht auf die (möglicherweise sogar funktionierende) Idee kommen, nächstes Jahr in Ferropolis einfach keine Bands mehr zu buchen – und nur noch Umbaupausen zu veranstalten.
12. Sobald man dem Alter entwachsen ist, in dem man heutzutage seinen Bacherlor-Abschluss machen kann, muss man beim Melt höllisch aufpassen, nicht zu seinem eigenen Vater zu mutieren und ständig den Kopf zu schütteln über diese verrückten jungen Leute. Für gefühlt ein Drittel der Fans herrscht Kostümzwang, die Bandbreite reicht von Bademantel bis Vollkörperleopard, vom Proll-Style à la New Kids Turbo bis zum Brautkleid. Das ist iritierend, aber höchst amüsant. Und natürlich das Verdienst von Lady Gaga.
13. Wenn man am Ende eines Konzerts der US-Postrocker Swans dringend auf Toilette muss und dann erleichtert ist, wenn sie ihr letztes Lied ankündigen, sollte man nicht zu früh jubeln: Ihr Rausschmeißer beim Melt wird tatsächlich mehr als 20 Minuten lang. Die perfekte Musik, um sich dazu einen Bart wachsen zu lassen.
14. Wenn es dunkel wird, sieht das Promotion-Team von Jägermeister der mobilen Einsatztruppe vom Roten Kreuz zum Verwechseln ähnlich. Fragt sich bloß noch, wer nun die bessere Medizin dabei hat.
15. Robyn hat keinen Tourbus, sondern reist in einem fliegenden Sauerstoffzelt durch die Welt, das mit Red Bull angetrieben wird. Eine andere Erklärung ist schlicht nicht möglich für die Show der 32-jährigen Schwedin, die nur ein Urteil erlaubt: atemberaubend. Sie kommt in einem Affenzahn auf die Bühne (das Bühnenbild hat übrigens einen etwas seltsamen Wetten Dass-Charme) gestürmt, legt dann eine irre Breakdance-Performance hin und entledigt sich gleich während der ersten beiden Songs ihrer Sonnenbrille und ihrer Bomberjacke mit Konichiwa-Logo, um schließlich auch noch ihr Jeans-Bolero-Jäckchen abzulegen. Nach diesem Striptease gibt es weiter eine Überdosis Energie, schon als zweiten Song gibt es das grandiose Dancing On My Own und einige der großen Hits in famosen Remixes. Und ein Nonstop-Workout von Robyn, das einfach nicht zu glauben ist. Sie ist Captain Future und ihr eigener Drill-Instructor, und sie tanzt, als wolle sie ihren eigenen Körper abschütteln. Uff.
16. Paul Kalkbrenner zieht beim Melt ein noch größeres Publikum vor die Hauptbühne als Robyn. Und wenn er grinst (und er grinst sehr oft), sieht er hinter seinem Laptop aus wie ein Playmobil-Männchen. Ohne Haarteil. In einer sehr, sehr unaufgeräumten Spielzeugkiste.
17. Auch wenn man endgültig meint, es gebe nur eine bestimmte Zahl an Schlagzeugsoundchecks, die man in einem Leben ertragen kann: Da geht immer noch mehr.
Die Highlights vom Freitag beim Melt-Festival 2011 als Video:
httpv://www.youtube.com/watch?v=4AzcIscI33c
Einen ausführlichen Rückblick auf das gesamte Melt-Festival 2011 gibt es hier.
Und die besten Fotos vom Melt gibt es in dieser Bilderstrecke bei news.de.