Wie man in das Melt hineinruft, so schallt es heraus, besagt ein altes Sprichwort. Das meint: Hört man auf dem Weg nach Ferropolis im Autoradio oder iPod die Musik von guten Livebands, meinetwegen von den Hives oder Chemical Brothers, dann wird man beim Festival mit tollen Auftritten belohnt. Und singt man auf dem Zeltplatz die Lieder von guten Bands, meinetwegen von Lykke Li oder Franz Ferdinand, dann trägt man seinen Teil dazu bei, dass es im folgenden Jahr gute Headliner beim Melt geben wird.
Manchmal stellt das Melt aber auch von sich aus Fragen. Ich habe alle aufgeschrieben, die am ersten Tag beim Melt 2012 an mich herangetragen wurden.
Frage: Möchtest du ein Red Bull?
Frager: Danny
Position: Tourbegleiter von Boy
Gesagte Antwort: Ja, gerne.
Gedachte Antwort: Hmm. Einerseits ist es ja sehr nett, die Wartezeit auf das Interview mit Boy ein wenig durch höfliche Gastgeber-Gesten zu verkürzen. So kann ich mir die Zeit vertreiben, bis die Boy-Mädels (beide in Gummistiefeln) kommen und wir dann in der Garderobe (Rufus Wainwright ist übrigens der Nachbar) schwatzen können. Und es lässt sich ein kleiner Blick in den Backstagebereich werfen, der kurz nach 14 Uhr noch so gut wie leer ist, abgesehen von reichlich Regen, der sich von oben hineinschleicht, und ein paar anderen Gästen mit Red-Bull-Dosen.
Andererseits fällt mir kein Getränk ein, das ich mit den beiden Damen von Boy weniger gern trinken würde. Ihre Musik steht ja schließlich für Introspektion, Schwelgen, allenfalls behutsamen Drive – nicht für Draufgängertum, sollte man meinen. Doch dieser Gedanke erweist sich dann am Abend bei der Show von Boy im Intro-Zelt als einigermaßen falsch. Valeska Steiner und Sonja Glass liefern ein ganz bezauberndes und euphorisch bejubeltes Konzert (das Zelt muss zwischendurch wegen Überfüllung geschlossen werden). Und es wird im Publikum durchaus nicht nur geträumt und gesungen, sondern auch getanzt oder zumindest mit den Hüften gewackelt.
Wer befürchtet hatte, Boy seien viel zu besonders oder zerbrechlich für eine Umgebung wie das Melt, sieht sich definitiv getäuscht. Übrigens haben sich auch Valeska und Sonja mittlerweile mit Festivals angefreundet, wie sie mir im Interview verraten haben. „Ich war früher kaum auf Festivals und hatte so eine Klischee-Vorstellung im Kopf, dass die Leute da in erster Linie zum Feiern hingehen, und nicht wegen der Konzerte“, erzählt Valeska. Seitdem hat sich ihr Bild aber deutlich gewandelt. Vom Auftritt beim Southside im Juni schwärmen Sonja und Valeska unisono so sehr, dass man sicher sein darf, dass sie sich mittlerweile sehr wohl auf Festivals fühlen.
Frage: You guys got some weed?
Frager: Zwei britische Besucherinnen
Position: Touristen
Gesagte Antwort: Er, no.
Gedachte Antwort: Ihr seht aus, als solltet ihr lieber keine Drogen mehr nehmen. Marihuana ist verboten und außerdem Mist. Vor allem in jungen Jahren schadet es dem Hirn und kann zu schlimmen Psychosen führen. Und die Musik von Vondelpark klingt bekifft auch nicht besser.
Frage: Hast du Feuer?
Frager: ein Besucher
Position: Raucher
Gesagte Antwort: Nein.
Gedachte Antwort: Es wird erfreulich wenig geraucht beim Melt. Seltsam allerdings: Trotz aller Bemühungen um Umweltschutz, Nachhaltigkeit und die gute Sache an sich (von Viva con agua bis hin zum Electric Hotel, wo man per Fahrrad selbst Strom erzeugen kann, um sein Handy aufzuladen), darf beim Melt eine böse Firma wie Marlboro für ihre bösen Produkte werben. Passt nicht, irgendwie.
Frage: How’re you all doing?
Frager: Justin Young
Position: Sänger der Vaccines
Gesagte Antwort: – (er kann mich sowieso nicht hören, er steht auf der Bühne)
Gedachte Antwort: Very well, thank you very much. Aber was ist eigentlich mit den Vaccines passiert? Vor zwei Jahren waren sie das Next Big Thing, und jetzt spielen sie 1,8 Alben später (The Vaccines Come Of Age soll im September erscheinen) immer noch als erste Band des Tages auf der Hauptbühne. Da ist irgendetwas entschieden falsch gelaufen. Das Schicksal, auf deutschen Festivalbühnen vor einem relativ desinteressierten Publikum zu spielen, obwohl man in der britischen Heimat gerade als Gott verehrt wird, haben zwar auch schon die Libertines oder Arctic Monkeys erlitten. Aber bei den Vaccines könnte das Nichtvorhandensein des raketenhaften Aufstiegs auch schlicht mit den Songs zusammenhängen. Wreckin’ Bar und If You Wanna sind auch beim Melt 2012 verdammt gut, aber dazwischen gibt es selbst in diesem kurzen Set (das mit einer Viertelstunde Verspätung beginnt, was schon eine Leistung ist, wenn man als erste Band des Tages auf die Bühne geht) viel Durchschnitt.
Frage: Wie geil sind The Rapture?
Frager: Mein Kopf
Position: oben
Gesagte Antwort: – (der hört sowieso nie darauf, was ich sage)
Gedachte Antwort: Wow! Natürlich wusste ich, dass The Rapture eine famose Band sind, mit ihrem sehr tanzbaren Postpunk oder sehr rockigem Discosound vieles von dem erst in Gang gebracht haben, was beim Melt 2012 musikalisch geboten wird. Es war auch unverkannbar, dass das aktuelle Album In The Grace Of Your Love verdammt viele Highlights hat. Aber die Show der New Yorker ist trotzdem eine Offenbarung. Alles ist auf den Punkt, alles sind Hits, alles wirkt dabei famos lässig. Und Frontmann Luke Jenner, der noch immer so unscheinbar aussieht, dass er bloß ein anderes T-Shirt anziehen müsste, um fünf Minuten nach seinem Auftritt wieder unerkannt über das Festivalgelände schlendern zu können, zeigt live erst recht, wie toll seine Talking-Heads-Gedächtnisstimme zu diesem Sound passt. Ein Fest.
Frage: Ist das die Schwedin vom Eurovision Song Contest?
Frager: Sven
Position: Kollege
Gesagte Antwort: Sie bewegt sich auf jeden Fall so.
Gedachte Antwort: Macht sie wirklich. Ihr Gesicht ist nicht zu sehen, und sie tanzt gerne mit irgendwelchen Schleiern im Gegenlicht, wenn sie nicht gerade im Schatten hinter ihrem Keyboard steht. Es handelt sich dann aber doch nicht um Loreen, sondern um Dillon. Die gebürtige Brasilianerin, die sich früher einmal Ladybird nannte und jetzt in Berlin lebt, legt eine durchaus faszinierende Show hin (Boy sind übrigens Fans, haben sie mir verraten). Sie lässt sich ewig Zeit, um einen Song aufzubauen, bleibt manchmal so leise, dass man vor der Gemini Stage fast nur noch die Klänge von Caribou hört (die nebenan auf der Hauptbühne ein Konzert mit etwas großem Gefälle von fantastisch bis mittelmäßig spielen), aber wenn sie in Fahrt ist, kommt irgendetwas zwischen Björk und Fever Ray dabei heraus. Womöglich ist das Kunst.
Frage: Kommst du mit zum Crowdsurfen?
Frager: Sandra
Position: Superfan
Gesagte Antwort: Lieber nicht. Aber viel Spaß!
Gedachte Antwort: Ich bin zu alt für so etwas, und außerdem hänge ich an meinem Leben. Gerade erst habe ich in Oliver Uschmanns Überleben auf Festivals noch gelesen, wie fies es sich anfühlt, wenn man plötzlich nicht mehr getragen wird. Und seien wir ehrlich: Wer möchte schon einen großen, seltsamen Mann mit regennasser Jacke auf Händen tragen?
Grund genug, richtig zu feiern (also meinetwegen auch samt Crowdsurfen) liefert die Show von Bloc Party aber auf jeden Fall. Gordon Moakes und Matt Tong hatten mir kurz vorher noch ein Interview gegeben, fünf Songs vom neuen Album Four für die Show beim Melt angekündigt und ansonsten reichlich müde gewirkt. Auf der Bühne in Ferropolis kann davon aber keine Rede mehr sein. Insbesondere Matt legt sich unfassbar ins Zeug und holt irre Sachen aus seinem Schlagzeug heraus, die Stimme von Kele Okereke ist noch immer sagenhaft intensiv und tatsächlich haben Bloc Party in ihren diversen Nebenprojekten in den vergangenen drei Jahren den Spaß am Konzert entdeckt.
Sie spielen schon zum dritten Mal beim Melt! (der erste Auftritt hier war ihr erster Festival-Slot, bei dem sie nicht tagsüber spielen mussten, sondern im Dunkeln mit Lighthow randurften, hatte Gordon im Interview erzählt) und vor allem im Vergleich zum letzten Auftritt in Ferropolis ist der Kontrast enorm: Damals hatte Kele wie wild an seinen Effektgeräten herumgedreht, kaum ein Wort gesagt und am Ende eines durchwachsenen Auftritts einigermaßen entnervt die Bühne verlassen. Diesmal beginnt es pünktlich zum ersten Ton von Bloc Party (Octopus macht den Auftakt) zu regnen und genau am Ende der Show (Helicopter ist der letzte Track) wird es wieder aufhören, trotzdem ist die Laune ausgelassen. Als “soggy, but determined” beschreibt Kele die Stimmung sehr treffend – und zwar für die Leute auf und vor der Bühne.
Nach Mercury und Hunting For Witches ist Like Eating Glass der erste Höhepunkt der famosen Show, mit Gänsehaut bis in die letzte Reihe. Ohnehin klingen die alten Songs noch viel besser als früher, obwohl Bloc Party live kaum etwas daran verändern. Aber This Modern Love (allein dieses Lied ist allen Regen der Welt wert) oder Flux (göttlich) bekommen noch einmal eine neue Qualität einfach dadurch, weil man jetzt weiß, wie wichtig sie waren, um Bloc Party dorthin zu bringen, wo sie heute sind: in den Status der vielleicht besten und spannendsten Rockband unserer Zeit.
Frage: Two Door Cinema Club oder Niki & The Dove?
Frager: Markus
Position: Experte
Gesagte Antwort: Two Door Cinema Club, eindeutig.
Gedachte Antwort: Das sehen wir einfach morgen mal.
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