Noch nie war das Melt! so schnell ausverkauft wie in diesem Jahr, noch nie war es so sauber und noch nie trieben es so wenige Leute auf den Monsterbaggern in Ferropolis (oder trieben sich auch nur dort herum), denn die Maschinen sind diesmal aus Wartungsgründen gesperrt. Genug Superlative gibt es also auch beim Melt 2012. Ich habe mal geschaut, welche am zweiten Tag des Festivals noch dazu gekommen sind.
Kategorie: Band mit dem höchsten Krachproinstrumentfaktor
Gewinner: Blood Red Shoes
Wert: 782 Krach
Steven Ansell und Laura-Mary Carter scheinen in ihrem Reisepass bei „Wohnsitz“ inzwischen „Festival“ eingetragen zu haben, aber trotz ihrer Dauerpräsenz ist es immer noch ein Erlebnis, Blood Red Shoes live zu erleben, und manchmal sogar noch immer eine Offenbarung, wenn man sieht, was sich alles mit Gitarre und Schlagzeug anstellen lässt, wenn sie auf so viel Talent und Kraft treffen wie bei ihnen. Vor allem im Direktvergleich mit den deutlich eintönigeren Raveonettes (die immerhin ein Trio sind) am Freitag wird deutlich, wie famos Blood Red Shoes mit nur zwei Instrumenten die ganze Welt zwischen Wut und Wehmut durchschreiten, manchmal innerhalb eines einzigen Songs. Highlight ihres Sets beim Melt 2012: In Time To Voices, live noch besser als auf dem aktuellen Album.
Kategorie: Geschlechterkampf auf der Herrentoilette
Gewinner: die Frauen
Wert: 53,1 Prozent
Es ist mittlerweile schöne Tradition, zu den Jungs zu gehen, wenn im Sanitärbereich des eigenen Geschlechts kein Durchkommen mehr ist. Auch wenn das beim Melt so oft vorkommt, dass dann für die Jungs bei den Jungs auch kein Durchkommen mehr ist. Trotzdem: Mädels, ihr seid willkommen. Eure Anwesenheit macht das kleinste lästige Geschäft ein bisschen spannender und das schlimme Aroma ein bisschen erträglicher. Und es zeugt im Zweifel von guten Manieren, sich einfach über Geschlechtergrenzen hinwegzusetzen und nach nebenan zu gehen. Als das Jungsklo wegen Reinigung kurz gesperrt war, sind die Herren nicht etwa zu den Mädels ausgewichen, sondern haben stattdessen neben die Eingangstür an die Toilettenwand gepinkelt. Pfui.
Kategorie: Bands auf der Hauptbühne mit aktuellem Album
Gewinner: Gossip und Squarepusher
Wert: aktuellstes Album ist zwei Monate und drei Tage alt
Diese Kategorie sollte eigentlich verwundern. Schließlich ist es der normale Zyklus, dass ein Act ein Album herausbringt und es dann mit einer Tour und Festival-Auftritten promotet. Doch beim Melt (und auch anderen Festivals dieses Sommers) scheint das längst keine Bedingung mehr für einen Platz auf der Hauptbühne zu sein. Gestern hat beispielsweise nur ein Künstler da gestanden, der in diesem Jahr ein Album veröffentlicht hat (allerdings stehen bei den Vaccines, Raveonettes und Bloc Party neue Platten schon so gut wie in den Läden): der verlässliche und äußerst gut gelaunte Plan B. Caribou ist hingegen immer noch mit der Musik aus dem Jahr 2010 unterwegs. Für morgen sieht es in dieser Hinsicht erst recht düster aus: Alle Acts haben da zuletzt im Jahr 2011 ein Album vorgelegt, The Whitest Boy Alive hat sogar seit 2009 keine Platte mehr gemacht. Seltsam.
Kategorie: ekelhafteste Stage Invasion des Festivals
Gewinner: David und Gossip
Wert: sehr, sehr ekelhaft
Gossip haben mit A Joyful Noise zwar reichlich frische Musik am Start, hatten aber trotzdem für Unmut bei manchen Melt-Fans gesorgt. Zu viel Glamour und Gala, zu wenig Indie und Glaubwürdigkeit, lautete der Vorwurf. Der Auftritt von Gossip war zwar nicht so fulminant wie ihr erstes Gastspiel beim Melt, aber besser (weil: kürzer) als viele ihrer normalen Konzerte und auf jeden Fall stark genug, um die Kritiker zum Schweigen zu bringen. Nach der Show sprach jedenfalls in Ferropolis niemand mehr vom Pop-Alarm, sondern es gab einen neuen Aufreger: Beth Ditto holte einen Fan namens David auf die Bühne. Der hatte sich als benutzte Damenbinde verkleidet, was die Sängerin anspornte, ihn auf die Bühne zu legen und sich dann rittlings ein bisschen auf ihm auszutoben. „Ich liebe diese Frau“, schwärmte David noch Stunden später trotzdem, als ich ihn kurz befragt habe. Das Damenbinden-Outfit war aber nicht extra für Beth gebastelt: Das trägt er immer bei Festivals.
Kategorie: Bands mit den meisten Hits pro Set
Gewinner: Two Door Cinema Club
Wert: 7 Hits
Abtanzen, mitsingen, glücklich sein – die Show der Nordiren beim Melt 2012 war ein Hochgenuss. Anders als Bloc Party am Freitag setzte das Trio nicht großflächig auf Songs vom im September anstehenden neuen Album, sondern spielte fast nur die Kracher vom famosen Tourist History. So macht man sich Freunde. Wenn das so weiter geht, ist beim nächsten Gastspiel definitiv ein Auftritt im Dunkeln drin.
Kategorie: Band mit den meisten Serge-Gainsbourg-Coverversionen pro Set
Gewinner: Superpunk
Wert: 1 Serge-Gainsbourg-Coverversion
Hach, Superpunk! Beim Melt 2012 spielten die Hamburger das vorletzte Konzert ihrer Abschiedstournee, und es war ein Fest. Als ganz am Schluss Neue Zähne für meinen Bruder und mich erklang, hatte manch einer in den hinteren Reihen im Intro-Zelt Tränen in den Augen. Bei den Fans ganz vorne konnte man das nicht so gut erkennen. Da wurde zu Hymnen wie Das waren Mods oder Matula, hau mich raus so sehr gesprungen, geworfen und geschrien, als ob es kein Morgen mehr gäbe (was im Falle von Superpunk ja quasi auch stimmt). Als Schmankerl gab es noch New York, USA, im Original von Serge Gainsbourg. Besonders schön war der Anblick das Security-Manns ganz vorne: Der hatte sich wohl auf einen ruhigen Abend eingestellt, als die mittlerweile sehr zivilisiert aussehenden Top Old Boys auf die Bühne kamen, und bangte dann sichtlich um die Standkraft der Zeltpfeiler. So muss das sein.
Kategorie: Verantwortungsvolles Verhüten
Gewinner: die Pharmaindustrie
Wert: 50 Pillen danach
Es soll ja tatsächlich Leute geben, die auf Festivals auch Sex haben. Das ist natürlich schon besorgniserregend genug, wenn man die mangelhaften Hygienemöglichkeiten betrachtet, die Enge im Zelt oder die Möglichkeit, dass sich womöglich nebenan gerade Fans von Peter Licht mit denen von Frittenbude paaren. Noch schlimmer wird das alles, wenn man schaut, wie es beim Melt 2012 um die Verhütung bestellt ist. Vom Festivalguide werden zwar Kondome kostenlos verteilt, laut Auskunft der Dame am Stand „stecken die meisten die aber bloß in den Geldbeutel, wo Löcher reinkommen, oder bauen Wasserbomben daraus“. Beim Roten Kreuz hat man bis Samstagabend etwa 10 Anfragen nach Kondomen (die dort für ein Euro pro Stück verkauft werden) bekommen und etwa 50 (!) nach der Pille danach, die es aber auch auf Festivals nur gegen Rezept gibt.
Kategorie: meiste Stimmeffekte pro Auftritt
Gewinner: Modeselektor
Wert: 6 Stimmeffekte
Melt und Modeselektor – das gehört schon ewig zusammen. Auch in diesem Jahr bestückt das Berliner Produzenten- und DJ-Duo wieder eine eigene Bühne in Ferropolis, auf der es unter anderem Hudson Mohawke oder Schlachthofbronx zu sehen gibt. Außerdem durften Gernot Bronsert und Sebastian Szary diesmal auch als Headliner am Samstag ran. Der Gig stand dem in nichts nach, was Paul Kalkbrenner hier im vergangenen Jahr veranstaltet hat: ein Monsterrave mit ganz viel Euphorie und ein bisschen Augenzwinkern. Für die Ansagen zwischen den Tracks nutzen die beiden immer wieder Stimmeffekte, die mal nach den Schlümpfen und mal nach Darth Vader klangen. Nunja.
Kategorie: Make-Up
Gewinner: Glitzer
Wert: 24.000 Wangen
Dass man nicht ungeschminkt zum Melt geht, gilt spätestens seit diesem Jahr auch für die männlichen Besucher. Ähnlich wie bei der Toilettennutzung (siehe oben) zeichnet sich auch da eine Angleichung der Geschlechter ab: Glitzer gehört auf die Wangen, gerne auch ein paar Farbstreifen in Kombinationen, die definitiv erst nach der Fußball-EM in Mode gekommen sind. Und bei den Mädels eventuell noch angeklebte Sternchen/Kreise/Blüten dazu.
Dieser Trend führte auch zur bisher schönsten Ansage des Festivals. „Hier gibt es wirklich viele Jungs zwischen 18 und 20, die sehr seltsam aussehen“, stellte Thees Uhlmann bei seiner Show im Intro Zelt fest. Recht hat er. Und außerdem ist er eine derart sympathische, authentische und intelligente Verkörperung von Rock, dass es kaum auszuhalten ist. Es gibt in seinem Konzert ganz viel Gänsehaut, Mitsingen, Indenarmenliegen. Nicht einmal Bloc Party haben gestern eine derartige emotionale Verbindung zu ihren Fans hinbekommen: Das Zelt wimmelt vor Leuten, die sich verstanden fühlen, denen diese Lieder vielleicht wirklich schon einmal das Leben gerettet haben. Sie haben sie schon hundertmal gehört, und dennoch scheinen fast alle hier genau auf dieses Konzert gewartet zu haben, um sie wirklich voll und ganz zu erleben, zu fühlen, zu durchdringen.
Nicht einmal der (spaßige) Gastauftritt von Casper und der nervige und überflüssige Zweitgitarrist (der aussieht und sich benimmt wie die Verkörperung von Spiegel Online, und das ist nicht als Kompliment gemeint) können dieses Konzert weniger als fantastisch machen. Gleich dreimal sagt Thees Uhlmann zum Abschied „Peace out“, als habe er sich auch ein bisschen an sich selbst berauschen können. Zauberhaft.
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