„Wir sind ja nicht zum Spaß hier“ ist einer meiner Lieblingssätze. Natürlich gilt er ohne Einschränkung auch beim Melt. Man kann, muss und soll auch bei Festivals etwas lernen, sich wappnen für das Leben. Ich habe am Tag 3 von Melt 2012 also ganz genau aufgepasst und daraus die logischen Schlussfolgerungen gezogen. Das Ergebnis: Fünf Thesen über die Zukunft.
1. Die Zukunft ist aufblasbar.
Egal ob Schwimmflügel, Plastikpalme, transportabler Swimmingpool, Gummi-Affe oder Schlauchboot: Alles, was ein Ventil und Signalfarben hat, ist in Ferropolis extrem gefragt. Vernünftig zu Ende gedacht, kann das nur bedeuten: Spätestens 2017 wird es das erste komplett aufblasbare Festival geben. Es wird eine riesige Hüpfburg sein, mit aufblasbaren Bühnen, aufblasbaren Imbissbuden und aufblasbaren Security-Männern. Die Energie für das Aufblasen wird nachhaltig gewonnen aus dem Gesamtwerk von The Whitest Boy Alive (das enthält genug heiße Luft). Und die Comeback-Show der Vaccines, die nach ihrer Auflösung und Wiedervereinigung endlich den Status als ewige Talente ablegen wollten, muss leider ausfallen: Rauchen und Jeanswesten mit scharfkantigen Nieten sind auf der Hüpfburg streng verboten.
2. Lana Del Rey wird den Hype überleben.
Ähnlich wie Gossip am Samstag war auch Lana Del Rey für einige Indie-Puristen in Ferropolis ein Ärgernis, gegen das sie schon Wochen vor dem Festival in Blogs mobil machten. Dass gegen Popstars mit melancholischer Ader aber nichts einzuwenden ist, beweist die Amerikanerin mit ihrem Mini-Auftritt auf der Gemini Stage. Natürlich ist der Andrang riesig und ein Teil des Publikums ist womöglich nur da, um ein Phänomen zu besichtigen oder irgendwann, wenn Lana Del Rey so groß sein wird wie Madonna, den Enkeln von diesem Konzert an einem entspannten Sonntagnachmittag in der Provinz von Sachsen-Anhalt erzählen zu können.
Aber der eindeutig größere Teil der Menge sind genuine Fans, die mitsingen, die Augen schließen und bei jeder kleinen Geste der Dame auf der Bühne in hörbare Verzückung geraten. Noch beeindruckender ist aber, dass sich Lana Del Rey ebenso sehr ins Zeug legt. Im blauen Minikleidchen steht sie ganz vorne auf der Bühne, ohne große Show, aber mit ganz viel Hingabe. Dann merkt man: Wenn all das Gerede um Knutschen mit Axl Rose oder aufgespritzte Lippen vergessen ist, wird immer noch diese Stimme bleiben. Und eine Frau, die unbedingt singen, berühren und bewegen will.
3. Die Zukunft ist verkleidet.
Ein nettes Kostüm ist Ehrensache beim Melt 2012. Der Trend aus den Vorjahren hat sich noch beschleunigt und führt zu Festivalgästen, die als schwedische Fußballerinnen, Grisu der Drache oder Titanic-Kapitän daherkommen. Wenn das so weiter geht, sind in drei Jahren die netten Herren vom Rettungsdienst diejenigen auf dem Gelände mit dem unauffälligsten Outfit.
4. Der FC Bayern steigt ab.
Ohne Nationalspieler Thomas Müller ist der Rekordmeister bekanntermaßen aufgeschmissen. Und der WM-Torschützenkönig startet gerade eine Zweitkarriere als DJ, zu beobachten in den letzten Stunden des Melt 2012, ab 5.30 Uhr auf dem Sleepless Floor. An seiner Tarnung muss er aber noch arbeiten: Wenn er weiter als Thomas Muller (und mit der Geschichte, er sei Franzose) auftritt, wird ihm Matthias Sammer bestimmt bald auf die Schliche kommen.
5. Alle elektronische Musik sollte sofort verboten werden, denn sie führt unsere Gesellschaft in den Abgrund.
Ich weiß: Das klingt hart. Vor allem nach einem Festival wie dem Melt 2012, das wieder einmal gezeigt hat, wie untrennbar Rock und Electro mittlerweile verschmolzen sind und was diese Annäherung nach wie vor für aufregende, wundervolle, euphorisierende Ergebnisse liefert. Es klingt vielleicht sogar vermessen nach einem Auftritt wie dem von Justice am Sonntagabend, der genau diese Verbindung in seiner besten Form auf die Bühne brachte: Die Kombination aus Attitüde und Look von Rock sowie der Produktions- und Funktionsweise von Techno sorgte für das beste Konzert des ganzen Festivals. Justice waren großartig, spannend, cool. Und sie lockten mit Abstand die meisten Fans vor die Hauptbühne, was ebenfalls beweist, wie gut der Einklang von Rock und Electro mittlerweile funktioniert.
Justice zeigten damit, das möchte ich vorab klarstellen: Elektronische Musik ist keineswegs per se schlechter als Rock. Sie liefert, was eine gewichtige Rolle spielt, im Zweifel die bessere Party. Und berücksichtigt man nur die ästhetische Seite, ist sie in ihrer aktuellen Ausprägung oftmals innovativer und relevanter als das, was heutzutage in der Regel mit Gitarreschlagzeugbass angestellt wird.
Es geht bei Kunst aber nicht nur um Ästhetik. Kunst muss immer auch die Gesellschaft berühren, und da fängt das Problem an: Betrachtet man das, was Justice oder Modeselektor beim Melt zelebrieren, als Ausdruck von Jugendkultur (und was sollte man sonst tun, wenn 20.000 junge Menschen dazu feiern?), führt das schnurstracks in den Abgrund. Das Weltbild, das hinter dieser Musik steckt, ist erschreckend.
Vor allem im Kontext Festival fällt das auf. Festivals als Forum sind schließlich einst aus etwas entstanden, was man ohne große Übertreibung eine soziale Bewegung nennen könnte. Natürlich ging es auch in Woodstock um die Party, ums Ficken und den Lärm. Aber es ging für junge Menschen auch darum, stolz zu zeigen, wie sie leben – und wie sie leben wollen. Übertragen aufs Melt 2012 liefert das fürchterliche Erkenntnisse.
Ein Problem dabei ist die Hermetik elektronischer Musik: Wenn mit Samplern oder Drumcomputern immer bloß Vorhandenes neu arrangiert wird, dann ist das zwar ein schöpferischer Prozess. Aber es kommen keine neuen Zutaten in den Topf. Langfristig bedeutet das nicht Stillstand, aber ein derart geschlossenes System verhindert zwangsläufig ein Maximum an kreativem Potenzial.
Wenn die Auswahl eingeschränkt und die Funktionsweisen so klar definiert sind, wie das derzeit der Fall ist, wird es zudem verdammt schwierig, sich abzuheben. Ein toller Beleg dafür war das Gerät, das ZDF Kultur beim Melt aufgebaut hatte: Ein Mosaik-Fußboden, bei dem einzelne Platten einzelne Geräusche erzeugen, wenn man darauf tritt, vom Scratchen über Bass-Linien bis hin zu Percussions. Eine halbwegs organisierte Horde, die darauf herumtanzt, kann im Handumdrehen einen Sound erschaffen, der sich nicht groß von dem unterscheidet, was auf den Bühnen zu hören ist. Musikalische Individualität können die Vertreter elektronischer Musik schon heute eigentlich nur noch über die Auswahl ihrer Referenzen erzeugen.
Damit fehlt ihrer Kunst so etwas wie Identität. Daft Punk oder Fever Ray haben aus dieser Not eine Tugend gemacht und mit ihren Anonymisierungsstrategien das Prinzip von Identität komplett ausgehebelt. Aber sie zeigen damit erst recht das Problem vieler anderer Vertreter ihres Metiers auf: Wenn ein Musiker keine Identität hat, bleibt sein Werk reine Dienstleistung, Funktionsmusik. Genau dieser Eindruck drängte sich bei vielen Acts beim Melt auf.
Die Hermetik von Samples, Remixes oder Mashups steht damit nicht nur dem Gedanken von Fortschritt im Weg (also dem Erschaffen einer völlig neuen Zutat für den Topf), sondern auch dem von Autorschaft, und damit von Verantwortung für das, was man tut. Wenn Justice beispielsweise auf viele kleine Bausteine von Prince bis zu italienischen Rockbands setzen, dann ist das kreativ, meisterhaft und definitiv eine Megaparty. Aber die Identifikation mit solcher Musik muss immer an eine Grenze stoßen, sie muss immer geringer sein als wenn Justice diese Klänge bis zum letzten Ursprung selbst, ganz allein aus sich heraus erschaffen hätten.
Elektronische Musik hat deshalb nicht nur einen Mangel an Authentizität, sondern ihr haftet auch der Makel der Bequemlichkeit an. Fertige Bausteine zu verwenden ist einfacher als selber zu machen – dieser Ansatz führt genau zu Karl-Theodor zu Guttenberg.
Das Melt hat für diese These auch gleich den besten Beweis geliefert: Ob die elektronische Musik gerade aus der Konserve kommt oder mithilfe von Rechnern, Mischpult und Plattendecks wirklich live auf der Bühne entsteht, ist in Ferropolis letztlich irrelevant. Vor der Big Wheel Stage wird das ganze Wochenende über durchgetanzt – ob da die Musik der Umbaupause erklingt oder tatsächlich DJs am Werk sind, spielt keine Rolle.
Dem Partyvolk geht es nur um den Moment, den Kick der Lautstärke, den Taumel des Tanzes. Man hat das auch dem Rock’N’Roll in seinen frühen Tagen vorgeworfen. Und wenn sich Justice am Ende ihrer genialen Show vor ihrem DJ-Altar huldigen lassen, dann sieht das zwar verdächtig nach Führerkult oder Opium fürs Volk aus, ist aber eben auch nicht anders als bei Coldplay oder Metallica. Trotzdem gibt es einen gewichtigen Unterschied: Im Gegensatz zu Rock hat elektronische Musik in der Regel keine Aussage (schon allein, weil sie meist keinen Text hat) und kein Ziel. Der Rausch ist hier Selbstzweck.
Bezeichnenderweise ist sogar die Drogenkultur umgekehrt: In den Rock hielten die Drogen damals Einzug, weil Künstler sich davon ein erweitertes Bewusstsein und kreative Höhenflüge versprachen. Im Techno dienen die Drogen dazu, länger feiern zu können. Sie sollen nicht die Produktion, sondern die Konsumption der Musik verbessern.
Rock kommt, und das gilt auch heute noch, wenn sich Teenager die Seele aus dem Leib schreien, aus einem Geist der Rebellion. Er speist sich aus dem Gefühl des Unverstandenseins, das von der Musik aufgegriffen, verstärkt und transzendiert wird. Rock sagt: Ich bin nicht einverstanden und ich habe keine Lust, diese Tatsache einfach so hinzunehmen. Ein Rockkonzert zeigt: Es gibt viele andere, die auch nicht einverstanden sind, und gemeinsam können wir etwas verändern. Das mündet natürlich nicht 1:1 in eine politische Bewegung, aber es hat ein Ziel. Es hinterfragt, es zeigt Möglichkeiten auf. Und das kann gesellschaftliche Macht entfalten: Rock hat schon bewiesen, dass Veränderung möglich ist, sogar politisch, sogar durch Musik.
Die Melt-Fans, die zu Modeselektor oder Justice tanzen, haben hingegen nur den Moment im Sinn. Sie sind womöglich auch nicht einverstanden mit der Lage der Dinge, aber sie können ihre Unzufriedenheit zumindest ausblenden, solange die Musik läuft. Sie fiebern dem erlösenden Moment entgegen, in dem die Bass Drum einsetzt und alles andere erst einmal egal ist. Aber wenn die Musik aus ist, hat sich nichts verändert. Als einziger Ausweg aus der Unzufriedenheit bleibt hier nur die Wiederholung der Flucht. Das ist nicht nur genauso berechenbar wie die Vorhersage, in welchem Moment des Tracks die Bass Drum einsetzen wird, sondern in letzter Konsequenz auch verdammt konservativ.
Dazu passt, dass elektronische Musik Ego-Musik ist. Sie wird in der Regel alleine produziert (in einem Studio, wo man alle Konflikte ausblenden kann und sich auch nicht mit so etwas albern Demokratischem wie der Meinung der Bandkollegen herumplagen muss). Und sie wird in der Regel alleine konsumiert.
Natürlich sind bei Justice 20.000 Leute vor der Bühne. Aber sie tanzen nicht gemeinsam, sondern jeder für sich allein. Es gibt kein Mitsingen, es liegt sich niemand in den Armen. Wenn der Nebenmann überhaupt einen Effekt hat, dann ist es ein Wettbewerbseffekt: Man will wilder tanzen als er, höher springen, mehr Blicke auf sich ziehen. Das ist ein Gegeneinander, vielleicht noch ein Nebeneinander – aber kein Miteinander. In einer Gesellschaft, die nur aus solchen Leuten besteht, wollte kein Mensch leben.
Hier gibt es noch mehr Fotos vom Melt 2012.
Punkt 5 – Großartige Analyse – dem ist nichts hinzuzufügen