Mia Morgan Fleisch

Mia Morgan – „Fleisch“

Künstler*in Mia Morgan

Mia Morgan Fleisch Review Kritik
Eine eigene Ästhetik entwickelt Mia Morgan auch jenseits der Musik.
Album Fleisch
Label Eklat
Erscheinungsjahr 2022
Bewertung Foto oben: (C) Check Your Head / Max Sand

Stell dir einmal vor, die wirst in deiner eigenen Schule drangsaliert. In der großen Pause zerren dich ein paar Idioten in eine entlegene Ecke. Sie drohen dir Prügel an und zwingen dich, dich auszuziehen und dich dann nackt mitten auf den Schulhof zu stellen. Was würdest du wohl fühlen? Sicherlich Erniedrigung, Ohnmacht, Scham. Jedes auf dich gerichtete Handy, jedes Grinsen, jeder dummer Spruch wäre wie ein giftiger Pfeil in deinen Körper.

Stellt dir einmal vor, du denkst dir eine Kunstperformance aus, zum Beispiel um gegen die Kleidervorschriften an deiner Schule zu protestieren. Die Aktion besteht darin, dass du dich nackt auf den Schulhof stellst, freiwillig. Was würdest du wohl fühlen? Wahrscheinlich so etwas wie Ermächtigung, Stolz und Autonomie. Jedes auf dich gerichtete Handy, jedes Grinsen, jeder dummer Spruch würde dir zeigen, dass die anderen deinen Mut bewundern und vielleicht sogar neidisch darauf sind.

Es ist dieselbe Situation, aber mit einer komplett gegenteiligen Wirkung. Mia Morgan hat diesen Unterschied perfekt verstanden. Sie zeigt sich auf ihrem Debütalbum maximal entblößt, intim, auch verletzlich. Aber sie setzt das um mit maximaler Inszenierung, bei der stets betont wird, dass sie die Autorin ist und dass all dies nach ihren Regeln geschieht. Das gilt für die Lieder auf Fleisch, es gilt bei der Künstlerin aus Kassel aber auch jenseits der Musik, vor allem in der Ästhetik, die sie in Social Media nutzt, von den Outfits über Memes bis hin zu den Emojis.

In Segen, dem vierten Song dieses Albums, kann man das besonders klar erkennen. Es geht um Benachteiligung von Frauen auf der einen und weibliche Überlegenheit auf der anderen Seite und es wird so etwas wie das Manifest dieser Platte. „Wie ich mich definiere / meinen Körper inszeniere / und mich online präsentiere / (…) selber sexualisiere (…) das können sie nicht zensieren“, singt Mia Morgan. Das Phänomen, jung zu sein, und das nicht (ausschließlich) als Privileg zu empfinden, dabei Frau zu sein und das Gefühl zu haben, sich dafür rechtfertigen zu müssen, durchzieht die Songs auf Fleisch. Ebenso präsent ist das Bewusstsein, dass die Welt noch immer nicht verstanden hat, wie ausgeprägt Sexismus und Diskriminierung sind, und wie schwer es selbst ohne diesen Mist schon wäre, im Zeitalter von Insta und TikTok erwachsen zu werden – also ein gefestigtes Selbstbild zu entwickeln, das der Ausgangspunkt für gefestigte Beziehungen werden kann.

„Auf Exzess folgt Apathie“, singt die 27-Jährige im Auftakt Jennifer Check, in dem sie zu viel Eighties-Sound in die Rolle einer Horrorfilm-Figur schlüpft und sich als so verwirrt zeigt, dass nicht einmal die Gesetze der Physik mehr zu gelten scheinen. “Ich bin und bleib’ ein Clown”, lautet ihre Erkenntnis in Teenager, das vom Trauma und der Prägung der noch jüngeren Jahre erzählt, einschließlich dem Bereuen von biografischen Peinlichkeiten und dem Nachtrauern um verpasste Chancen, auch hinsichtlich der (nicht ausreichend stattgefundenen) eigenen Persönlichkeitsentwicklung seitdem.

Vage Ahnung stellt fest, dass nichts in dieser Welt authentisch ist, schon gar nicht die Luftschlösser, die man selbst baut, In Wien wird von bohrender Eifersucht getrieben, Widerlich analysiert die eigenen Verhaltensmuster hinsichtlich der Attraktivität von Bad Boys („Du bist so widerlich / ich will dass du mich küsst“), Haustier im Hotel seziert die mitunter masochistische Zuneigung von Groupies zu Rockstars (beiderlei Geschlechts), der Album-Schlusspunkt Von außen hat noch etwas mehr Energie und Kraft als der Rest der Songs, obwohl es um den Reflex zum Einigeln geht.

Ein prägendes Thema der morgen erscheinenden Platte, die wie Mia Morgans erste EP Gruftpop (2019) von Max Rieger (Ilgen-Nur, Drangsal, Jungstötter) produziert wurde, ist die Konkurrenz unter Frauen. Das kann eine frühere Wegbegleiterin meinen, die bewundert wird und beneidet, wie in Blond („Ich sehe dir zu wie du wirst was ich werden wollte“), ebenso die BFF wie im Titelsong über eine vermeintlich symbiotische, aber in Wirklichkeit toxische Mädchenfreundschaft, die so kaputt ist, dass es an Kannibalismus grenzt (“Allerallerbeste Freundin, frisst du dich schön an mir satt?”) und letztlich jede sich als weiblich lesende Person, wie Schönere Frauen zeigt, das den Blick auf den Teufelskreis aus der (Selbst-)Definition über Äußerlichkeiten, Wettbewerb, Neid und (Selbst-)Zweifeln richtet.

Der Aufruf zu mehr weiblicher Solidarität passt ebenso zum modernen Feminismus von Mia Morgan wie die betont sexpositive Attitüde. Auffallend ist hier aber ein Widerspruch, der sich in solchen Fällen häufig findet: So sehr sie hier ihre Unabhängigkeit proklamiert, so sehr wird klar, dass sie ihren Wert stark über den Erfolg bei Männern und ihre Zufriedenheit stark über glückliche Beziehungen (mit Männern) definiert.

Noch etwas negativer fällt ins Gewicht, dass Fleisch ein bisschen zu wenig Abwechslung bietet. Die Musik ist stets maximal Pop, glänzend und schillernd, vorgetragen mit einer so klaren Stimme, dass es mitunter synthetisch wirken kann. Die oft ungewöhnliche Melodieführung lässt manchmal an Blond denken, die Arrangements in ihrer betonten Naivität gelegentlich an J-Pop. Ein Lied wie Reaktion fällt im Verlauf des Albums nicht deshalb auf, weil es eine sonderlich starke Komposition wäre, sondern weil es etwas interessanter im Sound wird und sich zunächst zwischen Industrial und Malaria! einzufinden scheint, bevor dann im Refrain plötzlich Tic Tac Toe grüßen. So willkommen dieses Debüt ist, weil sich Mia Morgan hier als einzigartige, mutige und auch angreifbare Künstlerin präsentiert: Die Lieder haben fast immer dieselbe Dynamik, der Gesang fast immer dieselbe Tonlage, die Texte fast immer dieselbe Botschaft – das ist leider etwas eindimensional.

Quietschbunt und schillernd ist das Video zu Teenager.

Mia Morgan bei Instagram.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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