Milliarden – „Schuldig“

Künstler Milliarden

Milliarden Schuldig Review Kritik
Milliarden suchen Orientierung, manchmal ohne Kopf.
Album Schuldig
Label Zuckerplatte
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Milliarden sind gerade erst acht Jahre alt, und schon haben sie ihre Unschuld verloren. Wer Ben Hartmann und Johannes Aue, die dieses Duo aus Berlin bilden, jetzt für frühreif hält, findet sich auf ihrem dritten Album bestätigt: Die zehn Songs auf Schuldig zeigen, wie clever sie mit den Sorgen ihrer Generation umgehen – und auch, wie gekonnt sie aus der intensiven Beschäftigung mit der Musikgeschichte die für sie passenden Elemente herausfiltern.

Im Titelsong gleich zum Auftakt von Schuldig kann man sich an Selig erinnert fühlen: Die Stimme ist kaputt, die Herangehensweise ist (auch im Text) etwas psychedelisch, am Ende steigert sich alles in einen Rausch hinein. In Swing erklärt schon das erste Wort ein durchaus verwandtes Thema: Drogen. Der Sound dazu wechselt zwischen Velvet Underground, Trainspotting-Soundtrack und im Refrain sogar den Pogues. Neues Leben vereint Schwermut und Ausbruch, das kennt man beispielsweise auch von den Pixies, deren Where Is My Mind? hier durchklingt. Wenn ich an dich denke führt sofort zum Gedanken: The Strokes haben Kinder bekommen, und die sprechen seltsamerweise Deutsch.

Auch AnnenMayKantereit oder Von Wegen Lisbeth kann man als Bezugspunkte benennen, die Stärke von Milliarden ist allerdings, wie klug sie dabei offene Enden lassen, sowohl in ihrem Sound als auch in den Texten. Es gibt genug Irritationen und noch mehr Interpretationsspielraum, und so bleibt diese Ästhetik frisch, obwohl man sie letztlich mindestens bis zu Ton Steine Scherben zurückverfolgen kann, und die Inhalte entziehen sich einer Eindeutigkeit, die schnell bei Egozentrik oder Kitsch enden könnte.

Die Gedanken sind frei heißt bezeichnenderweise das zweite Stück des Albums, das nicht nur eine Ballade ist, sondern womöglich tatsächlich ein Liebeslied. Die neue Beziehung („Seitdem du da bist, träume ich wieder“) wird hier zum Mikrokosmos, der leider nur ein Ausschnitt der Welt ist, in die man sich dann irgendwann wieder hinaus muss, zum Essen, zur Arbeit oder weil die Liebe vorbei ist. Das direkt folgende Die Fälschungen sind echt kann man ebenfalls als programmatisch betrachten: Ben Hartmann singt davon, dass er früh erkannt hat, wie viel Spaß es macht, in Rollen zu schlüpfen und Fantasien auszuleben – und wie hilfreich es im Leben ist, nichts für voll zu nehmen oder blind zu respektieren.

In der Single Himmelblick bezeichnet er sich als „Weltmeister im Verdrängen“ und macht deutlich, wie leicht es mitunter fällt, so vieles von dem zu ignorieren, was empörend in dieser Welt oder in unserem ganz unmittelbaren Umfeld sein kann. Trotz dieser Botschaft hört man aber einen echten, sogar existenziellen Schmerz. Diesen Effekt gibt es auch im waidwunden Ich schieß dir in dein Herz, das mit Quasi-Sprechgesang (und passend dazu mit kurzen Beat-Experimenten am Ende) überrascht: Dieser Weltschmerz könnte eitel wirken, aber die besungene Orientierungslosigkeit ist ebenso echt wie die Schuldgefühle, die daraus resultieren. Sie entstehen sowohl, weil man nicht in der Lage ist, sich zwischen all den Möglichkeiten zu entscheiden, die das Jungsein bietet, als auch aus der Erkenntnis, dass jedes Ergreifen dieser Möglichkeiten womöglich den Planeten, die Beziehung oder das Selbstbild noch ein Stückchen näher an den Kollaps bringt.

Die letzten beiden Lieder werden zum Höhepunkt von Schuldig, das der erste Release auf dem frisch gegründeten, eigenen Label von Milliarden ist. Diese zwei Songs holen das Album aus der Kategorie „manchmal etwas gewöhnlich“ und katapultieren es in Richtung „beinahe unverzichtbar“. Akkorde, Melodie und Handclaps in Wonderland wirken beinahe jovial, aber der Text ist weit von Heiterkeit entfernt – und dieser Kontrast klingt ziemlich umwerfend. Genauso stark ist das rasante Trenn dich, rund um den Imperativ „Trenn dich öfter mal von dir!“

Da gibt es wenig zu interpretieren: Das Video zu Himmelblick ist ganz oben gedreht.

Website von Milliarden.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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