Mouth Congress – „Waiting For Henry“

Künstler*in Mouth Congress

Mouth Congress Waiting For Henry Review Kritik
„Waiting For Henry“ ist eine Best-Of-Sammlung von Mouth Congress.
Album Waiting For Henry
Label Captured Tracks
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Diese Platte ist in ihrer Entstehungsgeschichte und der darauf enthaltenen Musik so abenteuerlich, surreal und durchgeknallt, dass es wahrscheinlich ratsam ist, zunächst ganz nüchtern mit den Eckdaten anzufangen. Legen wir also los.

Was bedeutet Mouth Congress? Das ist der Begriff für Oralsex, den Sir Richard Burton im Jahr 1883 in seiner Übersetzung des Kama Sutra gewählt hat.

Wer sind Mouth Congress? Eine seit Mitte der 1980er Jahre bestehende Gruppe aus Toronto mit wechselnder Besetzung, im Kern bestehend aus Paul Bellini, Brian Hiltz, Rob Rowatt, Gord Disley und Scott Thompson. Letzterer war auch als Stand-Up-Comedian in der Blödeltruppe Kids In The Hall tätig und später sehr erfolgreich mit der gleichnamigen Fernsehsendung, die von 1989 bis 1995 produziert wurde, zahlreiche Preise gewann und ihm auch einen Stern auf dem kanadischen Walk of Fame einbrachte. Mouth Congress betrachteten sich als Queercore Punkband, denn ein großer Teil ihrer Texte drehte sich um das Dasein als Homosexueller. „They decided rock’n’roll was the ideal form in which to explore homosexual experiences“, heißt es im Begleittext. Sie betrachteten sich dabei nie als ernsthafte Musiker, sondern wollten einfach dem Traum vom Rockstar-Dasein etwas näher kommen und vor allem ihre unbändige Kreativität auf einem zusätzlichen Kanal ausleben, möglichst spontan. Ihre Liveshows waren wilde Konzerte mit vielen Kostümwechseln, Gästen und Sketch-Einlagen.

Was gibt es hier? Mouth Congress haben nie offiziell Platten veröffentlicht, sondern immer in erster Linie als Liveband ihr Publikum gefunden. Die Songs aus den Jahren 1985 bis 2016 sind teils Skizzen, teils Konzertmitschnitte und viele Home-Recordings, die auf einem einfachen 4-Spur-Rekorder entstanden sind. Man kann sich das wie eine Lo-Fi-Variante von Acts wie Ween, Flight Of The Conchords oder Tenacious D vorstellen, die ebenfalls eine Rockmusik-Ästhetik mit viel Augenzwinkern und besonders gerne auch mit abgefahrenen Songtiteln wie What Do I Wear On A Trip To The Moon oder Guess I’ll Just Jerk Off Again verbinden.

Wieso gibt es jetzt plötzlich eine Platte von Mouth Congress? 2011 fand Paul Bellini eine Videokassette mit einem Mitschnitt eines ihrer Konzerte. Gemeinsam mit den Bandkollegen beschloss er daraufhin, eine Dokumentation über die Band zu drehen, da nicht zuletzt durch den Erfolg der gemeinsamen Fernsehshow (Bellini wirkte dabei als Gag-Schreiber mit) auch von einer ordentlichen Nachfrage auszugehen war. Gord Disley hatte zudem die Idee, ein paar Songs von früher auf Bandcamp hochzuladen. Letztlich landeten dort mehr als 600 Aufnahmen, die 2019 von Mike Sniper entdeckt wurden, der den Vorschlag machte, eine Best-Of-Compilation bei seiner Plattenfirma Captured Tracks zu veröffentlichen. Paul Bellini und Scott Thompson suchten 30 Songs aus, die nun auf Waiting For Henry versammelt sind.

Wer ist Henry? Keine Ahnung. Vielleicht einer der zahlreichen Bassisten, die im Laufe der Jahre von dieser Band verschlissen wurden – etliche davon sind mittlerweile angeblich tot.

Kommen wir also nach diesem Hintergrund zur entscheidenden Frage: Taugt diese Musik etwas? Die Antwort lautet jein. Passend zum stets ironischen Ansatz und der sehr spontanen Entstehungsweise der Lieder gibt es auf Waiting For Henry ein sehr großes Qualitätsgefälle. Manches ist nahe an der Unhörbarkeit wie Band From France, das von den Musikern selbst als Joke bezeichnet wird, oder das zum Glück nur 61 Sekunden währende Testicle Delight mit verstellten Stimmen, Kinderzimmer-Beat und nicht dem Hauch einer Melodie. Wer will, kann im Fascist Love Song verstümmelte Elemente von The Cure erkennen, im Text geht es um eine sado-masochistische Beziehung. A Queen’s Lament ist aus Sicht einer alternden Drag Queen sehr schief gesungen und A Wig wird tatsächlich ein sehr gewöhnungsbedürftiges Loblied auf Perücken.

Neben diesen sehr sperrigen Tracks gibt es etliche Stücke, die zumindest die Kategorie „interessant“ erreichen. What Is This Thing Called Love? klingt, als hätten The Buzzcocks sich an Rap versucht, Julie Newmar bietet ziemlich einzigartige (weil komplett improvisierte) Soundeffekte, der Text von Womyn besteht aus Zitaten, die Paul Bellini aus einem Radiobeitrag über das lesbische Verständnis von Sport, bildender Kunst und Popsongs entnommen hat – das Ergebnis wäre beispielsweise als Far-Out-Moment der Beastie Boys vorstellbar.

Und tatsächlich bieten Mouth Congress hier auch einige Highlights. Der Gesang in Sex And Love könnte von Iggy Pop sein, begleitet wird das von einem prägnanten Bass und schrägen Gitarrenattacken. Der Songtitel wird im Begleittext zu Waiting For Henry so erklärt: „Scott wollte wilden, verrückten Sex und hoffte, dass er zu Liebe führen würde, während Paul wahre Liebe wollte und hoffte, dass er in Folge dessen penetriert werden würde. Naiverweise dachten sie, dass die Mitgliedschaft in einer Rockband ihnen diese Dinge bringen würde, aber anders als bei so vielen Rockstars vor ihnen, galt diese Formel nicht für schwule Männer.“ Young And Alive In 1975 wird ein sehr wirkungsvoller Disco-Moment, Why? klingt tatsächlich emotional und aufwühlend, wobei sich das anklagende „Why“ unter anderem an Gott richtet mit der Frage, warum er so viele Aids-Opfer zulässt. Let’s Hear It For Show Business wird so kraftvoll und anarchisch, dass man an die Talking Heads denken kann, auch weil es von Anfang an in einem Alarm-Modus zu sein scheint.

Be My Hole wurde live bei einer Reunion-Show von Mouth Congress im Februar 2016 aufgenommen und zeigt, was passieren würde, wenn Nick Cave ausschließlich über schwulen Sex sänge, und zwar mit möglichst expliziten Metaphern. The People Have Spoken wird enorm kraftvoll und dabei sehr funky, den Schlachtruf „No more patriarchy / no more shit“ kann man zunächst noch für ein bisschen arg plakativ halten, bis der Hintergrund des Songs deutlich wird: Er entstand zu einer Zeit, als in Kanada das Recht auf Abtreibung infrage gestellt wurde und es sogar Bombenanschläge auf entsprechende Ärzt*innen gab. „The people have spoken / the clinics must stay open“, singen Mouth Congress hier und zeigen damit, was ihre Musik ausmacht: Sie verbinden Do-It-Yourself-Spirit mit Aktivismus und der Kraft des Humors.

Das Video zu The People Have Spoken zeigt den Demo-Hintergrund des Songs.

Mouth Congress bei Bandcamp.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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