Mudhoney – „LiE – Live in Europe“

Künstler Mudhoney

Live in Europe Mudhoney Kritik Rezension
Nach 30 Jahren ist „LiE“ das erste offizielle Livealbum von Mudhoney.
Album LiE – Live in Europe
Label Sub Pop
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

Gut eine Million Treffer listet Google bei einer Suche nach dem Wort „Mudhoney“. Ein paar davon beziehen sich bestimmt auf den Song von Teenage Fanclub, ein paar vielleicht auch auf den gleichnamigen Film von Russ Meyer. Die meisten jedoch dürften diese Band meinen, und in fast 40 Prozent dieser Fälle kommt neben „Mudhoney“ in den besagten Treffern auch das Wort „Nirvana“ vor. Der Versuch des 1991 plötzlich sehr berühmten Kollegen Kurt Cobain, die damals noch nicht so bekannten Kumpels aus Seattle auch ein bisschen berühmt zu machen, überschattet das Schaffen der Band seitdem. Ob Mark Arm, Steve Turner, Dan Peters und Guy Maddison das gut finden, weiß ich nicht. Ob es Segen oder Fluch für die Band war, mögen andere beurteilen. Das gerade erschienene LiE – Live in Europe, das erste offizielle Livealbum der Band, zeigt immerhin, wie richtig Kurt Cobain mit seinem Verweis auf diese Vorbilder lag.

Gleich der instrumentale Auftaktsong Fuzz Gun ‘91 bietet viel Gitarrenlärm wie ein Jam aus dem Proberaum von The Who, zeigt aber auch eine sehr amerikanische Rock-Traditionslinie, die vielleicht bei Neil Young beginnt und dann über Mudhoney zu Nirvana führt. Auch sonst ist die Platte, aufgenommen während der Tour 2016, ein Fest für Historiker: Das folgende Get Into Yours (der einzige Song auf LiE von der Show in Berlin) würde perfekt zu den Buzzcocks passen (inklusive der Zeile: „I’m losing myself again“), und nur Idioten werden daraus schließen, dass sich diese Musik seit 40 Jahren nicht weiterentwickelt hat. Das vergleichsweise konventionelle I Like It Small integriert etwas Theater und sogar Humor wie Alice Cooper in den frühen Siebzigern. Editions Of You ist zwar eine Coverversion von Roxy Music, klingt hier aber wie ein Fiebertraum von Chuck Berry.

Mudhoney begehen dieses Jahr ihr 30-jähriges Bestehen, auch ein neues Studioalbum soll es aus Anlass dieses Jubiläums geben. Das Livealbum darf man als Auftakt der Feierlichkeiten begreifen, denn wohl nicht rein zufällig bietet Live in Europe (die Aufnahmen stammen von Konzerten in Deutschland, Schweden, Kroatien, Österreich, Norwegen und Slowenien) einen recht vollständigen und repräsentativen Überblick über die Karriere der Band. Das Spätwerk Vanishing Point ist mit dem Song What To Do With The Neutral (das hier irre, zynisch und basslastig klingt wie die besten Momente von Frank Black) ebenso vertreten wie Suck You Dry aus der Zeit des Beinahe-Durchbruchs in den frühen 1990ern, das sich jederzeit selbst in die Luft zu sprengen droht, mit einer unfassbar fiesen Rhythmusgitarre, einem Schlagzeug wie einem Tornado und einem Gesang wie von einem Hysteriker, dem man gerade ins Gesicht gesagt hat, er sei hysterisch.

I’m Now ist wunderbarer Rock’N’Roll mit beträchtlicher Wut und Härte. Poisoned Water zeigt, dass bei Mudhoney auch Virtuosität erlaubt ist, zumindest am Schlagzeug. Der vergleichsweise getragene und dezent psychedelische Schlusspunkt Broken Hands lebt von seinem Breitwand-Horizont, nicht von seiner Zielgenauigkeit. The Final Course kommt so ursprünglich und so sehr mit dem Charakter eines Monoliths daher, dass man wetten möchte, es habe nur 0,8 Akkorde. Das Solo darin klingt, als ob jemand in eine Musikalienhandlung kommt, die neuste Gitarre nimmt, das älteste Effektgerät und den lautesten Verstärker, dann loslegt und erst in diesem Moment merkt, dass er gar keine Ahnung hat, wie man überhaupt Gitarre spielt – also großartig. Der Höhepunkt von LiE – Live in Europe ist das unerbittliche Judgement, Rage, Retribution And Thyme, aufgenommen in Wien. Der Song zeigt noch ein Prinzip, bei dem auch Nirvana sehr genau aufgepasst haben: Er ist die musikalische Entsprechung von Lethargie, die ihr Ventil in einem wilden Lamento gefunden hat.

Mudhoney live, allerdings nicht in Europa.

Website von Mudhoney.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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