Künstler*in | Muff Potter | |
Album | Bei aller Liebe | |
Label | Hucks Plattenkiste | |
Erscheinungsjahr | 2022 | |
Bewertung |
Der 22. Februar 2018 dürfte für Fans von Muff Potter ein Freudentag gewesen sein. Damals stellte Sänger und Gitarrist Thorsten Nagelschmidt im Festsaal Kreuzberg in Berlin erstmals bei einer Lesung seinen Roman Der Abfall der Herzen vor. Vielleicht, um sich in der neuen Rolle als Schriftsteller auf der Bühne etwas sicherer zu fühlen, wollte er das Ganze musikalisch untermalen lassen. Und seine Wahl fiel dabei auf Dominic Laurenz und Thorsten Brameier, also die Rhythmussektion von Muff Potter. Neun Jahre nach der Abschiedstournee der 1993 gegründeten Band war das also so etwas wie eine kleine Reunion.
Ebenso erfreut dürfte die Muff-Potter-Welt am 24. August 2018 gewesen sein. Da standen die drei, verstärkt durch Gitarrist Felix Gebhard (er hatte Muff Potter zuvor schon mehrfach als Tourmusiker unterstützt) überraschend wieder auf der Bühne, und zwar aus Protest gegen Nazis beim Festival Jamel rockt den Förster. Im Jahr darauf spielten sie in dieser Besetzung insgesamt sieben Konzerte und stießen auf eine sehr große Nachfrage.
Dass es nun erstmals sei 2009 ein neues Album der Band gibt, kommt also nicht völlig unerwartet. Eine Selbstverständlichkeit war Longplayer #8 für Muff Potter aber keineswegs. Nach den umjubelten Shows wollten sie nicht „ewig die Nostalgiekuh melken“, sagt Nagelschmidt, der mit Arbeit (2019) inzwischen seinen zweiten Roman veröffentlicht hat. Bei den Sessions, die im Dezember 2019 im Kulturgut Haus Nottbeck in Oelde/Westfalen begannen und dann mit Produzent Gregor Hennig (Die Sterne, Phillip Boa) im Studio Nord in Bremen abgeschlossen wurden, mussten die Beteiligten zunächst herausfinden, ob sich das beglückende Live-Gefühl von „Zusammen sind wir mehr als die Summe der einzelnen Teile“ auch auf einen Tonträger übertragen ließ. Zugleich war eine Antwort auf die Frage zu finden, was Muff Potter anno 2022 noch zu sagen haben. „Ich wollte auf keinen Fall so tun, als würden wir irgendwo nahtlos anknüpfen. Denn da wird’s dann schnell würdelos“, betont Nagelschmidt. Auch für Felix Gebhard war es keineswegs ein Automatismus, den Schritt vom Live-Begleiter zum festen Bandmitglied zu gehen. „Diese neuen Songs haben für mich den Ausschlag gegeben, unbedingt dabei sein zu wollen“, sagt er angesichts des heute erscheinenden Bei aller Liebe.
Man kann verstehen, welchen Reiz er darin sieht, dennoch ist Bei aller Liebe keine triumphale Rückkehr. In ein paar Momenten sieht es sogar so aus, als hätte das Comeback ziemlich in die Hose gehen können. Der Auftakt Killer ist ein Beispiel dafür. Die für sich stehende Gitarre zu Beginn verweist auf Grunge, der dann einsetzende Gesang und der Text auf Vorbilder wie Tomte oder Kettcar. Beides sind in der Tat sehr wichtige Koordinaten für Muff Potter, allerdings erreicht Killer weder das Niveau eines guten Grunge-Songs noch die Klasse der stärksten Lieder von Kettcar oder Tomte. Dafür sind die Reime zu wenig ausgereift und vor allem ist die Stimme von Nagelschmidt zu dünn. Allerdings kriegt das Stück nach zweieinhalb Minuten mit dem dann einsetzenden Chorgesang und einem immer mehr ausgreifenden Sound doch noch die Kurve.
Das ist ein Effekt, der sich auf dieser Platte mehrfach beobachten lässt, etwa in der Single Flitter und Tand, die edgy im Sound (unter anderem mit einer Referenz auf Fugazi) und neunmalklug im Text sein will, aber nicht so geil wird, wie das wohl alles nach Meinung der Musiker sein sollte. Auch hier gibt es allerdings wieder ein gutes Finale, weil Muff Potter da mehr auf Energie und Unmittelbarkeit setzen statt auf Angeberei. Auch die Gesangsperformance in Wie Kamelle raus holpert etwas (man ertappt sich beim Gedanken, dass dieser Text als Rap vielleicht besser funktionieren würde, weil dann die kleinen metrischen Unstimmigkeiten im Flow versteckt werden könnten), dafür entschädigt aber beispielsweise die zusätzliche Gitarre im Refrain als ein klasse Detail. Der einzige Grund aus dem Haus zu gehen könnte ein Highlight des Albums sein, denn es vereint Wucht und Eleganz wie das beispielsweise auch Biffy Clyro vermögen, sowie einen sehr guten Text, der wiederum einen besseren Sänger verdient gehabt hätte.
Zwei tatsächliche Höhepunkte auf Bei aller Liebe sind bezeichnenderweise zwei Songs, in denen Nagelschmidt in der Strophe auf Spoken Word setzt. Dabei kann seine oft assoziative Poesie glänzen, zudem entwickeln diese Stücke einen sehr eigenständigen Charakter. Das erste davon ist Ein gestohlener Tag. Die Textzeile „Unsere Körper wissen mehr als wir“ verweist offensichtlich auf das Muskelgedächtnis, das vielleicht auch beim gemeinsamen Musizieren nach jahrelanger Pause aktiv wird. Der Track bietet auch sonst viele sehr wirkungsvolle und bildstarke Zeilen, während ihn der sehr kreative Bass durch fast acht Minuten Spielzeit trägt. Das zweite ist Nottbeck City Limits, mit dem Muff Potter auf den Corona-Skandal in der Großschlachterei von Tönnies blicken, die sich ganz in der Nähe ihres künstlerischen Domizils befindet. Auch hier gibt es einen abstrakten Sound, und was den Song immer wieder neu befeuert, ist glaubhafte Empörung.
Die hört man auch in Privat, dem kürzesten Song der Bandgeschichte, der aber auch nicht mehr als 73 Sekunden braucht, um seine Botschaft rüberzubringen. Ich will nicht mehr mein Sklave sein offenbart ebenfalls viel Punch, Vorwärtsdrang und Optimismus, wobei sich auszahlt, dass Muff Potter bei der Produktion von Bei aller Liebe auf allzu viele Sperenzchen verzichtet haben. „Die meisten Songs wurden live aufgenommen. Ganz klassisch: vier Leute in einem Raum, die zusammen Musik machen“, so Nagelschmidt. Der Songtitel lässt an Kant mit E-Gitarre denken, es geht allerdings nicht so sehr um die selbstverschuldete Unmündigkeit, sondern eher um die Sehnsucht nach der Person und/oder der Beziehung, die Befreiung bedeuten kann: „Wann kommst du und holst mich raus?“
Der Titel von Hammerschläge, Hinterköpfe stammt aus einem Roman von Hendrik Otremba, der hier auch mitwirkt, genau wie Pedal-Steel-Gitarrist Kristoph Hahn (Swans). Das Stück nimmt Business- und Selbstoptimierungs-Blabla auf die Schippe und baut dabei gleich mehrere NDW-Zitate ein, auch der Sound verweist mit seiner Entsprechung von Monotonie und Erbarmungslosigkeit des Hamsterrads auf die frühen 1980er Jahre. Den Abschluss des Albums macht Schöne Tage mit einem erstaunlich leichten Groove und der Erkenntnis, das sich Muff Potter hin und wieder auch ein bisschen wohltuende Uneindeutigkeit erlauben. Für die nächsten Schritte nach dieser niemals peinlichen, gestrigen oder routinierten Rückkehr sind das nicht die schlechtesten Voraussetzungen.