Künstler*in | My Bloody Valentine | |
Album | Isn’t Anything | |
Label | Creation Records | |
Erscheinungsjahr | 1988 | |
Bewertung |
Einen Teil der epochalen Wirkung, die Isn’t Anything bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1988 hatte, kann man bereits verstehen, ohne auch nur einen einzigen Ton des Debütalbums von My Bloody Valentine gehört zu haben. Die britischen Charts wurden in diesem Jahr dominiert von Acts wie Kylie Minogue, Tiffany und Phil Collins. Am Horizont wurde schon deutlich, wie groß das kommerzielle Potenzial von Rap sein könnte und wie rasant sich die Möglichkeiten einer rein elektronischen Musikerzeugung entwickelten. Wer erfolgreiche Gitarrenmusik suchte, wurde allenfalls bei INXS fündig.
Für die wöchentlich erscheinende britische Musikpresse war das eine höchst tragische Situation. Bei NME & Co. liebte man es, vielversprechende Bands hochzujubeln, neue Trends und Genres zu erfinden, am liebsten mit Indie-Gestus und aus eigenen Landen. Eine Band wie My Bloody Valentine, 1983 in Dublin gegründet und seit 1985 in London ansässig, kam da wie gerufen. Mit den 1988 veröffentlichten EPs You Made Me Realise und Feed Me With Your Kiss hatten Bilinda Butcher, Kevin Shields, Deb Googe und Colm Ó Cíosóig die Kritik genauso wie das Publikum heiß gemacht und sich den Ruf erarbeitet, nichts weniger als die Zukunft zu sein.
Mit Isn’t Anything lösen sie dieses Versprechen ein. Das Quartett schafft es, hier nicht nur modern zu klingen, sondern wie eine Neuerfindung von allem, was man mit Gitarre, Schlagzeug, Bass und Gesang (und der Studiotechnik, die hier als das wohl wichtigste Instrument betrachtet werden muss) anstellen kann. Entsprechend euphorisch wurden My Bloody Valentine dafür gefeiert. Plötzlich waren da wieder Aufregung, Verheißung und Unberechenbarkeit, ein neuer Name für diesen Sound war mit „Shoegaze“ natürlich auch schnell gefunden. Die Platte stieg auf Platz 1 der Alternative-Charts im UK, der Melody Maker schrieb von „Ohnmachtsliedern, selbstvergessenem, schmachtenden Gesang und unscharfen Gitarren, die wie an den Rand des Bewusstseins gebracht und dort gehalten werden“.
Am Ende des Jahres 1988 war das Album in fast allen Bestenlisten zu finden, auch bis zur heute erfolgenden Wiederveröffentlichung (Domino macht erstmals das gesamte Schaffen von My Bloody Valentine digital verfügbar, zusätzlich gibt es von den Alben und EPs jeweils neue physische Releases, die von den Originalbändern remastered wurden) ist die Wertschätzung keineswegs gesunken. Für den Guardian gehört das Werk zu den „1000 Albums To Hear Before You Die“ und belegt Platz 16 im Ranking der „Alternative Top 100 Albums Ever“. In der Great Indie Discography bezeichnet Martin C. Strong diese Platte als erste Blüte für „the most influential indie band of the decade“.
Das ultimative Mittel, mit dem so viel Lobpreis erzielt wurde, lautet: Verwirrung. Mastermind Kevin Shields lässt bei My Bloody Valentine nie erkennen, welches Instrument da genau gespielt wird oder welche Bedeutung die gelegentlich auch von seinen Bandkolleg*innen beigesteuerten Texte haben. Selbst die vermeintlich unmittelbare Identifikation und Orientierung über den Gesang wird hier dekonstruiert. Eine der häufigsten Fragen rund um die Veröffentlichung von Isn’t Anything lautete: Wer singt da? Ein Mann? Eine Frau? Etwas dazwischen? Shields? Butcher? Beide zusammen?
Diese Rätselhaftigkeit stützt die Atmosphäre, die Shields mit viel Hall, Feedback und Wagemut erfindet. Der Sound ist verwaschen, alles scheint wie im Delirium gespielt zu werden, in einer Zwischenwelt, im Unterbewusstsein oder Halbschlaf. Tatsächlich hat die Band nach eigenen Angaben während der Aufnahmen in Wales kaum geschlafen. Dieser Effekt passt natürlich auch wunderbar in eine Szene und für ein Publikum, das spätestens seit dem Siegeszug von Acid House an das Miteinander von Musik und Drogen gewöhnt war.
Hört man das Album heute, womöglich gar zum ersten Mal überhaupt, lässt sich die Schockwirkung dieses Sounds, die den ganzen Körper erfasst und vor allem dem Geist viel mehr Aufgaben stellt als herkömmliche Rockmusik, noch immer erleben. Soft As Snow (But Warm Inside) eröffnet die Platte mit einer erbarmungslosen Snare Drum, dann folgen seltsame Gitarrensounds und diese auf schräge Weise berührende Stimme. Es wirkt, als hätte jemand EMF mit Säure übergossen oder bei Blur allen Willen zu historischen Referenzen enfernt – bloß, dass es beide Bands damals noch gar nicht gab und ohne den Einfluss von My Bloody Valentine vielleicht auch nie gegeben hätte.
Lose My Breath entwickelt unter anderem mit einer akustischen Gitarre seinen hypnotisch-magischen Effekt, in Cupid Come wird das Feedback besonders prominent als Instrument eingesetzt und ein immer wieder stolpernder Beat trägt zusätzlich zur Irritation bei. Das alles wird gepaart mit einer sehr schönen Melodie und entfaltet am Ende eine enorme Energie, die aus dem Nichts zu kommen scheint. In No More Sorry scheinen Harfen, Seifenblasen und Gnome im Spiel zu sein, bei All I Need möchte man wetten, der Rhythmus komme von einem trabenden Einhorn und die Instrumente seien in den Wolken platziert.
Es gibt auf Isn’t Anything indes auch genug Momente, in denen man nicht zu derart blumigem Vokabular greifen muss. (When You Wake) You’re Still In A Dream beispielsweise ist ein vergleichsweise straighter Rocksong, dadurch aber nicht weniger reizvoll. Auch Sueisfine sieht auf dem Papier vielleicht wie eine konventionelle Komposition aus, bekommt durch die enorm clevere Produktion aber eine faszinierende Verschachtelung und Beschleunigung. Several Girls Galore wirkt, als seien The Velvet Underground mit einem kräftigen Arschtritt in die Zukunft befördert worden.
Feed Me With Your Kiss ist heavy und zugleich nölig, der Song scheint sich fast an der eigenen Wildheit und Energie zu verschlucken. Im träge leiernden I Can See It (But I Can’t Feel It) muss man erkennen: Selten steckte in einer Musik, die so innovativ ist, so viel Wärme und so wenig Angeberei. In einem einzigen Stück wie You Never Should ist der Einfluss auf alles zu erkennen, was Großbritannien im folgenden Jahrzehnt an relevanter Musik hervorbringen sollte (und auch auf Acts wie die Smashing Pumpkins auf der anderen Seite des Atlantiks). Auch Nothing Much To Lose offenbart die einzigartige Balance zwischen straight und rätselhaft, die My Bloody Valentine hier erschaffen. Das ist eindeutig Rockmusik, zugleich gilt: Das Schlagzeug und insbesondere die Gitarre machen Dinge, die man noch nie zuvor in der Rockmusik gehört hat. Oder sonst irgendwo auf diesem Planeten.