My Bloody Valentine – „M B V“

Künstler*in My Bloody Valentine

My Bloody Valentine MBV Review Kritik
„MBV“ erschien 22 Jahre nach dem Vorgänger.
Album M B V
Label M B V
Erscheinungsjahr 2013
Bewertung

Spätestens seit dem ersten Teil von Zurück in die Zukunft wissen wir ja um den Zusammenhang von E-Gitarren und Zeitreisen. My Bloody Valentine schaffen mit ihrem dritten Album M B V einen weiteren Beweis für diese Verbindung. Genauer gesagt schaffen sie sogar drei Beweise.

Erstens: Als die Band um Mastermind Kevin Shields, der mit Ausnahme der Gesangsbeiträge von Bilinda Butcher fast alles auf dieser Platte gemacht hat, das Album 2013 über ihre eigene Website veröffentlichte, gab es viel Begeisterung. Fast alle relevanten Redaktionen sangen damals Lobeshymnen und nahmen das Werk in ihre Jahres-Bestenliste auf. Dabei ist dies eigentlich gar kein Album aus 2013: Nachdem My Bloody Valentine 1991 ihr zweites Album Loveless veröffentlicht hatten, begannen die Arbeiten an einem Nachfolger, die sich – typisch für diese irisch-englische Band – natürlich ziemlich in die Länge zogen. Viel Material entstand bei Sessions im Jahr 1996, einige Passagen, die nun auf M B V zu hören sind, hatte die Band sogar schon 1993/94 aufgenommen.

Dennoch wurde, und das ist die zweite Irritation im Raum-Zeit-Kontinuum, das Album dafür gefeiert, dass es wahlweise zeitgemäß oder futuristisch sei. Man kann das in vielen Passagen der Platte nachvollziehen. Who Sees You klingt, als sei es mit einer Industrieanlage erzeugt worden, nicht mit Musikinstrumenten, es wirkt wie ein Plasma, nicht wie Schallwellen, wie ein Delirium, nicht wie ein Song. In Another Way vereint ein wildes Schlagzeug, eine schräge Gitarre und eine betörende Synthiemelodie zu einer insgesamt hypnotischen Wirkung. Bei Wonder meint man einen Flugzeugstart und rückwärts laufende Elemente zu hören, was zu einem einzigartigen Spannungsbogen führt.

Drittens haben etliche Kritiker*innen die insgesamt neun Stücke auf M B V als logische Fortsetzung des Sounds gesehen, den My Bloody Valentine für ihr Debütalbum Isn’t Anything (1988) entwickelt hatten. Auch das passt nicht zur kalendarischen Chronologie, denn dazwischen war eben Loveless angesiedelt. Auch etliche weitere Koordinaten im Universum der Band hatten sich längst geändert. Nach der unfreiwillgen Trennung von Creation Records hatte die Band bei Island unterzeichnet und sich vom Vorschuss ein eigenes Studio gebaut. Als dieses Label (verständlicherweise) allerdings keine Lust hatte, 22 Jahre (wie sich herausstellen sollte) auf eine fertige Platte zu warten, ging auch diese Geschäftsbeziehung in die Brüche. Bassistin Debbie Googe und Schlagzeuger Colm Ó Cíosóig stiegen schon während der 1996er Sessions aus, wenig später galten My Bloody Valentine offiziell als aufgelöst, was Kevin Shields unter anderem dazu nutzte, Gitarre bei Primal Scream zu spielen.

Freilich hat er parallel immer wieder an Musik für M B V gearbeitet, und dass diese Platte letztlich eine Herzensangelegenheit ist, hört man deutlich. Er strebte für das dritte Album seiner Band einen „impressionistischen“ Ansatz ohne konventionelle Songstrukturen an, hat er rund um die (in drei verschiedenen Jahrzehnten mehrfach angekündigte und nach der Wiedervereinigung 2008 und einer Welttournee schließlich auf die Zielgeraden einbiegende) Veröffentlichung immer wieder mitgeteilt. Dass er im eigenen Studio nicht mehr auf Kosten oder Arbeitszeiten achten und auch noch weniger als zuvor Rücksicht auf den Rest der Band nehmen musste, gab ihm die nötigen Freiheiten zur Verwirklichung dieser Idee.

Allerdings hört man der Platte auch an, dass hier an einigen Stellen ein Korrektiv fehlte. Das gilt insbesondere im ersten Drittel des Werks: Die ersten drei Songs sind je über 6 Minuten lang, für das gesamte Album liegt die durchschnittliche Spieldauer bei knapp 5:30 Minuten. Das führt dazu, dass M B V (wenn man nicht gerade Tontechniker*in ist) an einigen Stellen etwas selbstverliebt und sogar langweilig wird – ein Vorwurf, den man My Bloody Valentine bis dahin nie machen konnte. Auch die Tatsache, dass der typische Sound hier erneut verfeinert und konsequent umgesetzt, aber letztlich nicht wirklich weiterentwickelt wird, lässt sich im Rückblick auf die Platte, die nun im Rahmen einer Reissue-Serie von Domino neu aufgelegt wird, nicht verleugnen.

She Found Now (das einzige Lied der Platte, das nicht auf Material aus den 1990er Jahren beruht) eröffnet den Reigen mit druckvollen Gitarren, die dennoch wie abwesend klingen, einem verträumten Gesang und komplett ohne Rhythmusinstrumente, sodass ein seltsam verwaschener Drone entsteht. In Only Tomorrow scheint die Stimme ebenfalls über den Dingen zu schweben, dazu schreien die Gitarren vor Schmerzen, weshalb die einzelnen Tonspuren sich immer fester ineinander zu klammern scheinen.

If I Am lebt vor allem von seinem himmlischen Gesang, als hätten Saint Etienne ihre Rotationsachse verloren und seien ins Trudeln geraten. Is This And Yes setzt unter anderem auf eine geheimnisvolle Orgel, wie man das von den ersten beiden Alben kennt, die dezenten Schläge auf eine Trommel scheinen als Begleitung eher einschläfern als antreiben zu wollen: Wenn es den Begriff „Shoegaze“ noch nicht gegeben hätte, wäre seine Erfindung hier zwingend notwendig gewesen. Das wilde Instrumental Nothing Is könnte man hingegen mit einigem Recht als Punk klassifizieren, nicht nur wegen der rasanten Drums, sondern auch wegen seiner fast brutalen Entschlossenheit, die so groß ist, dass so etwas wie Gesang nur ablenken würde.

Bei einem Track wie New You ist man beinahe versucht, ihn „konventionell“ zu nennen, denn der Song überrascht vor allem durch die Zusammenstellung seiner Zutaten: Der Beat könnte HipHop sein, der Gesang würde zu Morcheeba passen, die Gitarre bleibt hier fast schlicht. Aber das gilt natürlich nur nach den Maßstäben von My Bloody Valentine. Letztlich klingt M B V zwar wenig bahnbrechend, wenn man die Musik dieser Band bereits kennt. Aber immer noch revolutionär im Vergleich zu fast allen anderen Acts dieser Welt.

My Bloody Valentine spielen New You live in Slowenien.

Website von My Bloody Valentine.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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