My Ugly Clementine Dream Nails Leipzig

My Ugly Clementine, Dream Nails, Panometer, Leipzig

Man sieht es erst, wenn man draußen steht. Die beiden runden Backsteingebäude in der Leipziger Südvorstadt, knapp 50 Meter hoch und gut 50 Meter im Durchmesser, wurden früher genutzt, um Stadtgas zu speichern. Auf einem davon findet sich neben dem Hinweis auf das Baujahr 1910 noch ein Zeiger, der einst den Füllstand anzeigte. Gut 100.000 Kubikmeter Gas konnte man in das Gebäude pumpen, um die Haushalte in der Umgebung zu versorgen und Druckunterschiede im Gasnetz auszugleichen. Bis 1977 waren die Gemäuer tatsächlich mit Stadtgas gefüllt, dann standen sie lange leer.

In einem der Gebäude zeigt nun Yadegar Asisi seine monumentalen Panorama-Kunstwerke. Das einstige Gasometer wird deshalb in Leipzig mittlerweile Panometer genannt. Das zweite Gebäude wird zumindest im Sommer zum Veranstaltungsort, der von außen den Charme eines Industriedenkmals hat und von innen ein bisschen an eine antike Arena erinnert. Man kann froh sein über diese Idee zur Nachnutzung. Schließlich hätte angesichts der Energiekrise nach Russlands Angriff auf die Ukraine auch jemand auf den Gedanken kommen können, die Gebäude wieder ihrem ursprünglichen Zweck zuzuführen (wozu man allerdings wieder ein Dach hätte einbauen müssen). Gas war im vergangenen Frühjahr ja ebenso begehrt wie passende Speicherorte, und die beiden Anlagen gehören noch heute den Leipziger Stadtwerken.

Zum Glück füllen an diesem Abend also nun statt unzähliger Wasserstoff-, Methan-, Stickstoff- und Kohlenmonoxid-Moleküle gut 200 Fans das Panometer, um Dream Nails aus London und My Ugly Clementine aus Wien zu sehen. Die Gemeinsamkeiten der beiden Bands sind schnell erkannt: Beide sind zu viert auf der Bühne und kombinieren dort harte Gitarrenmusik mit tollem Harmoniegesang und klarer feministischer Agenda. Die Aufrufe zu Respekt und Toleranz werden vom Publikum in Leipzig genauso bejubelt wie die Songs, das Beschwören des Zusammenhalts in der LGBTQ-Community ist genauso glaubhaft wie der (leider noch immer nicht selbstverständliche) Hinweis, dass Frauen tolle Rockmusik machen können. Loud Women hieß eine Compilation, auf der Dream Nails einen ihrer ersten Songs veröffentlichten, Peptalk heißt ein Song (und der Podcast) von My Ugly Clementine. Beides würde wunderbar passen als Überschrift für diesen Abend auf der Sommerbühne.

Dream Nails beginnen ihre Show mit einer Coverversion von Limp Bizkits Take A Look Around, spätestens nach Good Guy und Vagina Police haben sie dann schon viel mehr Aufmerksamkeit und Jubel geerntet, als es bei einer Vorgruppe sonst üblich ist. Als sie nach einer runden halben Stunde verkünden, dass am 30. Oktober ihr zweites Album erscheinen wird, dürften etliche Fans im Publikum sich diesen Termin tatsächlich im Kalender vermerkt haben.

My Ugly Cementine Leipzig Konzert
Von innen sieht das Panometer ein wenig wie eine antike Arena aus.

Auch My Ugly Clementine (in ihrer Heimatstadt Wien gibt es übrigens auch nicht mehr benutzte Gasometer im Stadtteil Simmering, in die man ab 1999 unter anderem mehr als 500 Wohnungen, etliche Läden, Restaurants und ein Studentenheim gebaut hat, zudem die „Music City“ mit Ton- und Tanzstudios, der Pop-Akademie sowie eine Konzerthalle für knapp 4000 Leute) haben später klare Botschaften (wie ein bisschen „No means no“-Nachhilfe für Rammstein) und eine Coverversion im Gepäck, nämlich What’s Up von Four Non Blondes. Der Klassiker aus den frühen 1990ern wird in Leipzig enorm abgefeiert, dass er bei weitem nicht der beste Song der Show ist, zeigt indes die enorme Qualität in der Musik der drei Österreicherinnen, die live von einem Schlagzeuger begleitet werden – dem einzigen Mann, der an diesem Abend auf die Panometer-Bühne darf. Are You In macht den Auftakt, auch My Dearest Friend und Don’t Talk To Me sind Highlights.

Wie umwerfend Sophie Lindinger, Mira Lu Kovacs und Nastasja Ronck als Sängerinnen sind, zeigen sie besonders deutlich in Good Enough, in dem jede der Musikerinnen einen Part übernimmt und das Lied so mit jeder Sekunde immer heller strahlt und immer neue Facetten offenbart. Vor der ersten Zugabe loben sie das Leipziger Publikum mit dem Hinweis „Ihr habt sehr viel Energie!“. Man könnte meinen, im Panometer sei an diesem Abend tatsächlich ein bisschen etwas von der einst in Gasform gespeicherten Kraft wieder freigesetzt worden – durch tolle Musik und das beglückende Gefühl von Gemeinschaft.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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