My Ugly Clementine Dream Nails Leipzig

My Ugly Clementine – „The Good Life“

Künstler*in My Ugly Clementine

My Ugly Clementine The Good Life Review Kritik
My Ugly Clementine haben „The Good Life“ selbst produziert.
Album The Good Life
Label BMG
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung

Seit 150 Jahren gibt es keine Braunbären mehr in Tschechien. Ab und zu übertritt aber ein Exemplar aus der benachbarten Slowakei die Grenze und lässt sich in den mährischen Beskiden blicken. Genau dort, im Haus des Großvaters von Bassistin Nastasja Ronck, haben My Ugly Clementine ihr zweites Album aufgenommen. „Wir haben gekocht, geschrieben und aufgenommen“, beschreibt das Trio aus Österreich die Sessions. „Das Haus war auf einem Hang, das letzte einer Reihe von Häuser, danach beginnt der Wald. Wenn man da steht, ist das ein besonderes Gefühl.“

In einem Lied wie Let Me Go scheint man diesen Entstehungsort förmlich heraushören zu können. Der Song hat viel Drive, aber auch eine enorme Verletzlichkeit, als wüssten My Ugly Clementine nicht, ob sie die angeblich lauernden Bären lieber abschrecken oder besser vor ihnen davonrennen sollten. Der sehr ruhige „I wish I was perfect for you“-Teil nach knapp zwei Minuten ist dann eine der vielen grandiosen Überraschungen auf dieser selbst produzierten Platte.

Den Rückzug aufs Land hört man The Good Life noch auf andere Weise an. Für das Debütalbum Vitamin C gab es nationale und internationale Awards, zudem Plätze etwa im Vorprogramm von AnnenMayKantereit und Parcels. Diese frühen Erfolge und nicht zuletzt die Aktivitäten der drei Musikerinnen – Kem Kolleritsch (Schlagzeug) hat die Band 2022 verlassen – in anderen Projekten haben dieser Band zuhause in Wien schon den Titel als „Supergroup“ beschert. Die neue Platte wendet sich allerdings recht bewusst vom Trubel ab und bietet im Sound eher mehr Widerborstigkeit und Betonung des eigenen Charakters als den Versuch, die nächste Stufe auf dem Weg zur völligen Eroberung des Mainstreams zu zünden.

Der Auftakt Circles steckt diese klanglichen Koordinaten gleich ab: „Ich habe den Song nur in meinem Kopf geschrieben. Auf dem Weg aus dem Studio nach Hause habe ich die einzelnen Teile ins iPhone gesungen“ sagt Sophie Lindinger, die auch als eine Hälfte des Pop-Duos Leyya bekannt ist. Das Ergebnis bewahrt sich diese Spontaneität, vereint Lo-Fi-Ästhetik mit ordentlich Schwung, schön polternden Drums und wundervollem Harmoniegesang im Refrain. Das ergibt einen Sound, der sehr ursprünglich und dabei doch aufregend neu klingt, wie das sonst vielleicht allenfalls Steve Albini hinbekommt.

Die Single Are You In ist pseudo-plakativ wie die Breeders und clever wie Wet Leg, Would Do It Again könnte man sich als bittersüße Ballade von Haim vorstellen, in No ist schon der Call-and-Response-Teil zu Beginn eine super Idee, danach wird das Lied immer besser, als seien The Pipettes zu Garagen-Punks mutiert. Die Abrechnung Things zeigt, wie kritisch und durchaus auch böse My Ugly Clementine sein können, zugleich sind sie (in diesem Song und anderswo) viel zu smart, um wirklich wütend oder fuchsteufelswild zu werden, bis sie sich ein sehr schönes Weezer-Rock-Out als instrumentales Finale gönnen.

Bei all diesen Referenzen hat The Good Life trotzdem einen ganz eigenen Charakter, zu dem neben dem gerne knarzigen Sound vor allem der Harmoniegesang von Ronck, Ludinger und Mira Lu Kovacs (sie ist auch solo aktiv) beiträgt. Die ungesunde Effekte des WWW dürften selten so schön und vielschichtig besungen worden sein, das malerische Impossible Situation könnte auch aus den Siebzigern stammen, auch Too Much hat eine tolle Atmosphäre und Dramaturgie, The Adviser wird unter anderem durch seinen Sprechgesang enorm cool. Der Album-Abschluss How Would I Know What I Know hat zwar eine E-Gitarre als Basis, würde mit seinem tollen, sehr einfallsreichen Gesangs-Arrangement aber sogar auch acapella funktionieren.

Das vielleicht beste Lied der Platte ist Feet Up. Erstens kommt darin wunderbar zum Ausdruck, wie gerne My Ugly Clementine die Kunst der Verweigerung zelebrieren. Sie fordern hier dazu auf, auch mal die Füße hochzulegen und stellen der FOMO-Mentalität den Lobpreis der Langeweile entgegen. “Boredom muss ja nicht immer negativ sein, manchmal ist es auch gut, langsam zu leben. Nach einem Konzert zum Beispiel sitzen wir auch gerne noch im Backstage, trinken einen Gin Tonic und spielen Brettspiele”, lassen sie wissen. Zweitens ist der Song ein Hit mit allen Eigenschaften, die auch The Good Life insgesamt auszeichnet: Es ist komplex und funktioniert doch unmittelbar, es ist edgy und lässt sich davon trotzdem nicht den Spaß verderben.

Das Video zu Circles vereint Drehwurm und Ohrwurm.

Website von My Ugly Clementine.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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