Nadine Shah – „Holiday Destination“

Künstler Nadine Shah

Nadine Shah Holiday Destination Kritik Rezension
Auf ihrem dritten Album ist Nadine Shah politischer denn je.
Album Holiday Destination
Label 1965 Records
Erscheinungsjahr 2017
Bewertung

Eine Party ist wohl das, was die meisten Leute veranstalten, wenn sie 30 werden. Nadine Shah hat vielleicht auch gefeiert, vor allem aber hat sie sich aus Anlass dieses Geburtstags, den sie im vergangenen Jahr begangen hat, gefragt, in was für Zeiten wir eigentlich leben, angesichts von Brexit, Trump und dem Krieg in Syrien. Die Antworten, die sie gefunden hat, gibt es nun im Track 2016 auf ihrem neuen Album: Das Lied entwirft eine Stimmung voller Hinterfragen und Verunsicherung, in der das Versprechen „Come over here, I’ll hold you tight“ einen irritierenden Zungenschlag bekommt. Es ist damit sehr typisch für das dritte Album der Engländerin: Spannungen prägen Holiday Destination, und ein explizit politischer Ansatz.

„Als ich mit meinen Freunden über all diese politischen Krisen gesprochen habe, haben einige von ihnen gesagt: Stimmt, man schaut dann auf sein eigenes Leben und erkennt, wie gut es einem eigentlich geht – dass all die vermeintlichen eigenen Probleme im Vergleich vernachlässigbar sind. Das sehe ich gar nicht so. Jeder hat seine ganz persönlichen Krisen, immerzu. Es ist erlaubt, Empathie dafür zu empfinden. Es ist erlaubt, dass du mit deinem eigenen Bullshit zu kämpfen hast“, sagt sie.

Einer der Auslöser für den politischen Ansatz war ein Dokumentarfilm, den ihr Bruder 2014 über das Flüchtlingslager in Gaziantep gedreht hat. Nadine Shah hat die Musik dazu gemacht. „Ich wusste natürlich um diese Themen, aber als mein Bruder dort vor Ort war und ich seine Arbeit dann musikalisch begleitet habe, hat das noch einmal meine Wahrnehmung geschärft“, sagt sie. „Ungefähr zur selben Zeit sah ich einen Nachrichtenbeitrag, der mich wirklich aufgewühlt hat. Es ging darum, dass am Strand von Kos in Griechenland Tausende Flüchtlinge aus Afrika angekommen sind. Der Fernsehsender hat ein paar britische Urlauber dazu befragt und die haben tatsächlich geantwortet, das habe ihnen die Ferien ruiniert. Das hat mich schockiert, so etwas zu sagen, ohne die geringste Scham, im landesweiten Fernsehen“, erinnert sie sich. „Diesen Effekt beobachte ich auch in einem weltweiten Maßstab: Menschen sagen diese schrecklichen Dinge, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Schicksal anderer ist ihnen egal, und sie erzählen auch noch freiwillig, wie egal es ihnen ist. Deshalb heißt das Album Holiday Destination.

Der dazugehörige Titelsong nimmt deshalb die schlimmen Zustände im Flüchtlingscamp von Calais in den Blick. Eine Gitarre schlägt zu Beginn Alarm, dann kommt eine unheilvolle zweite Stimme hinzu, die an Liela Moss erinnert, schließlich das Saxofon von Pete Wareham. Die Frage „How you gonna sleep tonight?“ wird so zu einem Stachel, der sich mit jeder Wiederholung tiefer ins Fleisch bohrt. Auch Mother Fighter thematisiert die Situation in Syrien, das Lied handelt von einer Frau namens Ragda, die von dort geflohen ist und deren Geschichte in der Dokumentation A Syrian Love Story erzählt wird. Der Sound dazu ist erstaunlich: Wenn Florence Welsh Musik machen würde, die so klingt wie ihre schillernden Outfits aussehen, könnte so etwas herauskommen.

Gemeinsam mit Produzent Ben Hillier, in dessen Studio in Brighton Holiday Destination aufgenommen wurde, hat Nadine Shah sich ganz bewusst für solche Effekte entschieden, sagt sie: „Das Album sollte einen fröhlichen Klang haben. Ich liebe Billy Bragg, aber ich wollte es nicht Billy-Bragg-politisch haben. Ich wollte es Stevie-Wonder-politisch. Ich denke, eines der besten politischen Lieder aller Zeiten ist sein Living For The City – ich habe das schon als Kind gesungen, so wie viele andere Songs von ihm. Erst als ich älter wurde, habe ich dann festgestellt, dass das nicht nur verdammt gut klingt, sondern auch eine sehr kraftvolle Botschaft hat.“

Man kann diesen Ansatz einem vergleichsweise straighten Song wie Ordinary anhören, der den Groove betont, oder Relief, in dem ganz viele Einflüsse, Ideen und Instrumente sehr filigran zusammengeführt werden. Auch auf den Album-Schlusspunkt Jolly Sailor trifft das zu, der mit prominentem Klavier und elektronischem Beat in die Nähe von Goldfrapp rückt. Benannt ist das Lied nach einem der Lieblingspubs von Nadine Shah in ihrer Heimat Tyneside im Nordosten Englands. „Nach dem Brexit-Votum hat mich das wirklich aufgeregt, dass viele meiner Kumpels gesagt haben: Oh, kein Wunder, dass der Norden so abgestimmt hat, das sind nun einmal alles Rassisten. Aber das sind sie nicht“, stellt die Sängerin klar, die stattdessen eine andere Theorie hat: „Die Leute wurden von den Medien an der Nase herumgeführt, vor allem die Arbeiterklasse und die Menschen im Norden wurden dabei manipuliert. Aber ich weiß, dass meine Freunde im Norden auf so etwas nicht hereinfallen, und davon handelt dieser Song.“

Das Thema taucht auch in Yes Men auf, wo sie ebenfalls die Methoden der Massenmedien hinterfragt, zu einem Sound, der so stoisch ist, dass er fast wie eine deprimierte Version von Echobelly wirkt. Die Single Out The Way wiederum nimmt die beunruhigende Wiedergeburt des Nationalismus ins Visier. „Das macht mir wirklich Angst. Ich bekomme Kommentare auf Twitter im Stile von ‚Geh doch dahin zurück, wo du hergekommen bist!’ Und dann frage ich: ‚Wohin meinst du? South Shields?’ Das stößt mich wirklich in eine Identitätskrise. Ich bin eine Migrantin der zweiten Generation. Ich wurde in England geboren, ich fühle mich sehr englisch, verdammt englisch! Aber ich bin auch Muslima, auch das ist Teil meiner Kultur.“ Den Song dazu versieht sie mit einem Beat voller militärischer Strenge, die Bläser werden verfremdet, bis sie wie ein Schleimmonster klingen, auch der verzerrte Bass erhöht die Aggressivität, die sich am Ende in eine rasende Panik steigert.

Auch das ist auffällig an Holiday Destination, erst recht im Vergleich zum Vorgänger Fast Food: Nadine Shah, die bisher oft vor allem über ihre herausragende Stimme wahrgenommen wurde, beweist hier, dass sie bei weitem nicht nur eine Sängerin ist, sondern: Komponistin, Musikerin, Sounddesignerin. Place Like This zeigt das gleich zum Auftakt des Albums: Die Gitarre ist funky, der Beat ist komplex, es gibt lange Instrumentalpassagen und die Stimme reiht sich dazu erstaunlich weit im Hintergrund ein – dennoch wird aus dem Track ein sehr kraftvoller Aufruf zur Empathie.

Das sicher persönlichste Stück ist Evil, in dem es um Kämpfe mit der eigenen Psyche geht. Nadine Shah wird darin als bösartig bezeichnet, sogar als „the living devil himself“ und reagiert darauf mit einem Sound, der in manchen Passagen der harmloseste auf dieser Platte ist, an anderen Stellen einem wilden Ausbruch gleichkommt. Der Song verweist somit ebenfalls auf das eingangs erwähnte Zitat, auf die politische Dimension des Privaten – zugleich auf die Tatsache, dass sich ein Leid, eine Sorge, ein Trauma nicht gegen das andere aufwiegen lässt. Nadine Shah betont, ihre Lieder seien nicht auf eine spezifische Krise wie die in Syrien bezogen. „Sie sind über jeden, der irgendwo versucht, einem Konflikt zu entfliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Schau dir den Jemen an. Oder Eritrea. Deshalb zeigt das Albumcover auch ein Motiv aus Gaza. Es geht mir nicht bloß um Syrien, sondern um eine Gesamtanalyse all dieser schrecklichen Zustände.“ Genau in dieser Perspektive liegt letztlich die universelle Kraft von Holiday Destination.

Im Video zu Holiday Destination scheint Nadine Shah zwischen Ohnmacht und Entschlossenheit zu wanken.

Nadine Shah bei Twitter.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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