Autor*in | Naika Foroutain und Jana Hensel | |
Titel | Die Gesellschaft der Anderen | |
Verlag | Aufbau | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung | Foto oben: Ingela Skullman from Pixabay |
Auf Jana Hensel bin ich auf Twitter gestoßen, als die Plattform noch so hieß, und als man dort noch pointierte Positionen jenseits von Populismus entdecken konnte. Ihre Beiträge auf der Plattform zeigten sie als bestens informierte und sehr reflektierte Expertin zu Ostdeutschland, die – wohl auch wegen ihrer eigenen ostdeutschen Biographie – keine Scheu hat, mutig, widerständig und renitent zu sein, wenn es darum geht, für einen anderen Blick auf den Osten zu werben. Dort, wo allzu oft westdeutsche Perspektiven, Narrative und Maßstäbe genutzt werden, um über „die da drüben“ zu berichten und zu sprechen, punktet sie mit dem Wissen darum, wie sich Transformationsgeschehen wirklich anfühlt, wie sehr die wenigen Monate von friedlicher Revolution und Wiedervereinigung auch nach mehr als 30 Jahren noch die Mentalitäten im Osten prägen, und nicht zuletzt, wie gravierend die weiterhin bestehenden Ungleichheiten sind.
Bedingt durch diesen Erstkontakt war der Auftakt von Die Gesellschaft der Anderen eine große Überraschung für mich. Das erste Kapitel blickt nämlich auf den Anschlag von Hanau im Febuar 2020, wenige Monate vor Veröffentlichung des Buchs. Bekanntlich liegt dessen Schauplatz in Hessen, der Täter war nicht ostdeutsch, die Opfer waren es auch nicht. Die Reflexion über die Hintergründe der Tat und ihre (mediale) Nachwirkung führt dann aber schnell zu einer Parallele, die im Mittelpunkt des Buchs steht. Gemeinsam mit der Migrationsforscherin Naika Foroutan spürt Jana Hensel in einem acht Kapitel umfassenden Dialog der Frage nach, wie sich Erfahrungen von Integration und Assimilation ebenso wie von Ausgrenzung und Marginalisierung in ostdeutschen und migrantischen Lebensläufen gleichen. „Gesellschaftliche Minderheiten, so scheint mir, können gedanklich zusammenrücken, wenn sie sich begegnen“, lautet eingangs eine der Thesen von Jana Hensel.
Die Gegenüberstellung fördert in der Tat erstaunliche Parallelen zutage, etwa erhebliche Defizite bei der Repräsentation, sich verfestigende Nachteile hinsichtlich gesellschaftlicher Aufstiegschancen und mal latente, mal offene Diskriminierung durch das, was hier die „Mehrheitsgesellschaft“ genannt wird, also weiße, biodeutsche Menschen aus den alten Bundesländern. Hensel, die als Autorin mit Zonenkinder bekannt wurde und heute als Journalistin etwa für DIE ZEIT im Osten schreibt, und Foroutan, die an der Humboldt-Universität Berlin tätig ist, profitieren davon, dass sie beide Expertinnen und zugleich Aktivistinnen sind. Das von ihnen gewählte Gesprächsformat lässt dabei auch Positionen zu, an denen kein Konsens zwischen ihnen herrschen muss, was die Aussagen letztlich noch glaubwürdiger macht.
Immer wieder lassen die Autorinnen auch die eigene Erfahrung einfließen, wobei die Perspektive auch Generationen-übergreifend wird, was ebenfalls sehr hilfreich für eine umfassende Einordnung ist. Sie liefern in ihrem Austausch bestürzende Diagnosen über das Versprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit sowie über den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land – obwohl alle Ereignisse, Studien und Debatten, auf die sie sich beziehen, noch aus der Zeit vor der Eskalation durch Covid stammen. „Rassismus ist ein legitimatorisches Prinzip, und es strukturiert unsere Gesellschaft“, stellt Naika Foroutan beispielsweise fest. Jana Hensel untermauert ihre Analysen immer wieder mit ernüchternden Zahlen insbesondere zur wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen Ost und West.
Natürlich kreist das Buch auch um die Frage, warum all die hier präzise herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten in ostdeutscher und migrantischer Lebensrealität nicht zu einer Allianz dieser beiden gesellschaftlichen Gruppen geführt haben, sondern vielmehr Distanz, Neid, Misstrauen und teilweise offene Abneigung das Miteinander prägen, spätestens seit Pegida, den Hetzjagden in Chemnitz und den Wahlerfolgen der AfD in Ostdeutschland. Der Osten gilt bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund pauschal als feindliches Territorium. Umgekehrt betrachten viele Ostdeutsche geflüchtete Menschen und People of Color als per se nicht willkommen und nicht zugehörig. „Der Rassismus war die Basis, auf dem all das stattfand, der kleinste, sehr große gemeinsame Nenner, der nun benutzt wurde, all die Schieflagen zu artikulieren, die sich im ostdeutschen Raum über Jahrzehnte angestaut hatten und sich vor dem hysterisch übertriebenen Zerrbild der massenhaft ankommende Flüchtlinge wie zu einer endzeitlichen Apokalypse verdichten ließ“, schreibt Jana Hensel hier über dieses Phänomen. „Diese Wut, dieser Hass, und auch dafür steht das Jahr 2015 sinnbildlich, wurden nun jedoch für die Mehrheitsgesellschaft zum mentalen Fußabdruck der gesamten ostdeutschen Gesellschaft.“
Dabei hatte Foroutan schon in einer früheren Veröffentlichung die These aufgestellt: „Ostdeutsche sind irgendwie auch Migranten: Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen.“ Hier liefert sie weitere Argumente dafür und spricht von einem „Verhältnis zum verlorenen Land (…), selbst wenn es ungeliebt war, überwunden oder verlassen werden wollte“, das in beiden Gruppen ähnlich sein könnte.
Allerdings gibt es auch eine sehr erhebliche Abweichung, auf die wiederum Jana Hensel hier zumindest implizit verweist, etwa mit Passagen wie „Zu-Anderen-gemacht-Werden ist eine der prägendsten ostdeutschen Erfahrungen nach der Wiedervereinigung: Eine Gesellschaft trat dabei aus ihrer eigenen Mitte heraus und wurde an die Peripherie geschoben.“ Dieser entscheidende Unterschied ist: Flucht und Migration sind zwar oft keine freiwilligen, aber stets individuelle Entscheidungen. Das Ende der DDR hingegen war eine kollektive Erfahrung, von den allermeisten im Land gewollt, dennoch für niemanden mit der Möglichkeit, sich seinen Folgen zu entziehen. Überspitzt gesagt: Jeder Mensch, der aus Syrien, Irak oder Afghanistan nach Deutschland kam, hätte auch die Möglichkeit gehabt (wohl wissend, dass dabei persönliche Lebensumstände wie Verfolgung, Gewalt oder Existenznot ausgeblendet werden), in dieser Heimat zu bleiben. Menschen, die von DDR-Bürger*innen zu Gesamtdeutschen wurden, hatten diese Möglichkeit nicht.
Umso schmerzhafter muss für sie die Ernüchterung sein (die wiederum als gemeinsame Erfahrung von Ostdeutschen und Migrant*innen gelten kann), dass die neue gesellschaftliche Heimat weit davon entfernt ist, all die Versprechen einzulösen, auf die man gesetzt hatte, in der Wiedervereinigung auf der einen, in der Entscheidung für Deutschland als Lebensmittelpunkt auf der anderen Seite. Auch das ist ein Punkt, der diese Gruppen deutlich von Westdeutschen unterscheidet und eigentlich ein verbindendes Potenzial bietet: Sowohl Ostdeutsche als auch Migrant*innen sind für das westliche Lebensmodell aus Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft ins Risiko gegangen. Sie haben es nicht nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten auf dem Silbertablett serviert bekommen, sondern sich selbst erobert, unter Einsatz erheblicher biographischer Brüche. Auch das wird in Die Gesellschaft der Anderen klar, und auch das wird viel zu wenig berücksichtigt bei der Frage, warum „Jammer-Ossis“ oder „integrationsunwillige Geflüchtete“ eigentlich ein so großes Problem mit den de facto ja reichlich vorhandenen Unvollkommenheiten dieses Landes haben.
Durch die Kombination aus Sachverstand, persönlichem Engagement und der Offenheit für die Kraft des besseren Arguments entsteht so ein Sachbuch, das beinahe den Charakter eines Pageturners bekommt, weil es so viele kluge Fragen und Antworten enthält. Die größte Stärke von Die Gesellschaft der Anderen ist dabei keineswegs, dass hier steile Thesen oder gar alleinseligmachende Lösungen postuliert werden. Vielmehr ist es Foroutans und Hensels fragender, vorsichtiger, tastender Weg zum Erkenntnisgewinn, der die Lektüre so angenehm und die Wirkung des Buchs so stark macht.
Das beste Zitat stammt von Naika Foroutan: „Es gibt in allen Gesellschaften ein rassistisches Repertoire. Die Frage ist, inwieweit hat es der intellektuelle oder politische Diskurs geschafft, das existierende rassistische Repertoire so zu ächten, dass es sich aus den öffentlichen Räumen in die Privatsphäre zurückzieht. Wenn es nicht öffentlich zur Schau gestellt wird, heißt das nicht, dass es nicht da ist. Es heißt aber, dass es den öffentlichen Raum nicht unterspülen und sich nicht als Normalität gerieren kann. Es ist aber jederseits abrufbar und mobilisierbar.“