Künstler | Nancy Sinatra | |
Album | Nancy Sinatra: Start Walkin‘ 1965-1976 | |
Label | Light In The Attic Records | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Rund 150 Millionen Mal wurden die Alben von Frank Sinatra weltweit verkauft. Elvis Presley setzte in seiner Karriere sogar mehr als eine Milliarde Tonträger ab. Man kann diese beiden Männer wohl mit Fug und Recht als die erfolgreichsten amerikanischen Pop-Solokünstler betrachten, die es bis dahin überhaupt gab. Und zwischen diesen Megastars steht die 19-jährige Nancy Sinatra nun, am 3. März 1960, und führt in einem braven weißen Kleid einen albernen Tanz auf. Der eine Mann ist ihr Vater und steht hier als Star seiner eigenen Fernsehshow vor der Kamera. Der andere (mit dem sie später auch einen Kinofilm drehen sollte) hat gerade seinen zweijährigen Militärdienst absolviert, und seine Rückkehr in die USA ist eine so große Nachricht, dass ihm die Sendung gewidmet wird.
Die Welcome Home, Elvis-Show war ihr erster Fernsehauftritt, direkt vor einem Millionenpublikum, und er zeigte, wie leicht die Idee der ältesten Tochter von „The Voice“ hätte scheitern können, selbst eine Gesangskarriere zu starten. Die Messlatte hing unmenschlich hoch. Was bei anderen als Achtungserfolg gegolten hätte, wäre hier eine Enttäuschung gewesen (oder würde als Resultat der guten Beziehungen des Papas abgetan). Unter dem Niveau von Welthits, wie sie nun auf Nancy Sinatra: Start Walkin‘ 1965-1976 tatsächlich zu finden sind, durfte es nicht bleiben.
Es sah angesichts dieses Anspruchs zunächst nicht gut aus. Die heute 80-Jährige wird selbst anerkennen, dass sie als Sängerin bei weitem nicht über das Jahrhunderttalent ihres Vaters verfügte. Die ersten Singles, veröffentlicht auf dem Label des Papas, stießen kaum auf Interesse. Wenig deutete in den Jahren unmittelbar nach der besagten TV-Show darauf hin, dass Nancy Sinatra zu einer Ikone werden sollte. Doch sie hat es geschafft. In ihrer erfolgreichsten Karrierephase, die auf dieser Compilation dokumentiert ist, hat sie Evergreens erschaffen, auch in der Zeit danach hat sie mit dieser Musik und ihrem Mut (vielleicht kann man es als Statement betrachten, dass Something Stupid, das überaus erfolgreiche Duett mit ihrem Vater und einer ihrer größten Hits, hier nicht berücksichtigt ist) Legionen von Fans auch in nachgeborenen Generationen gewonnen. Sie „setzte Fußstapfen, in denen Hynde, Harry, Madonna bequem in Richtung Female Rock unterwegs sein konnten“, hat der deutsche Rolling Stone bei Veröffentlichung einer früheren Werkschau geschrieben – und diese Pionierrolle hätte niemand von Nancy Sinatra erwartet, schon gar nicht die beiden Chauvis Frank & Elvis.
Den Wendepunkt in ihrer Karriere brachte 1966 die Begegnung mit Lee Hazlewood. Es war ein klarer Fall von „Minus x Minus = Plus“ oder einer „makellosen Symbiose von Interpretin und Autor“, wie es der Rolling Stone genannt hat, der die beiden in seinem Ranking der „100 legendärsten Paare des Rock“ auf Platz 18 gelistet hat. Hazlewood, damals schon weit jenseits der 30 und bis dahin auch nicht sonderlich erfolgreich, jedenfalls nicht als Interpret, „wusste um den Reiz der sonderbaren Paarung und baute stets mehr Humor und Ironie ein, als ein Popsong üblicherweise aushält“. Bei 9 der hier vertretenen 23 Songs (alle sind von den analogen Originalbändern neu gemastert) ist er Duettpartner, noch häufiger tritt er als Komponist auf. An der späten Blüte der Karriere von Nancy Sinatra hat er großen Anteil, ebenso wie Arrangeur Billy Strange, der für die Sängerin ein noch wichtigerer musikalischer Partner wurde, als Hazlewood sich aus dem Gespann verabschiedete, um wieder mehr unter eigenem Namen ins Rampenlicht zu treten.
Seine erste Empfehlung an die damals 26-Jährige war der Schlüssel für den Erfolg dieser Zusammenarbeit: „Get rid of the babyness. You’re not a virgin anymore.“ In der Tat ist es die sexuelle Spannung in diesen Duetten, die ihnen noch heute ihren Reiz gibt, und nicht zuletzt die Rollenverteilung darin. Nancy Sinatra tritt auf als emanzipierte Frau, die sich ihre Lover selbst aussucht, sie auch wieder sitzen lässt, wenn sie keine Lust mehr auf sie hat, und am klassischen Beziehungsmodell von verliebt-verlobt-verheiratet so viel Interesse hat wie ihr Vater an Abstinenz. Das war spektakulär, zumal in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre.
Ein Lied wie Sand zeigt diesen Effekt sehr gut: Es sind 227 Sekunden, die sich treffend mit dem Wort „Verführung“ zusammenfassen lassen, auch wenn unklar bleibt, wer hier wen verführt. Lady Bird ist ebenso souverän und erwachsen (und so schick, dass man kaum wagt, es außerhalb von Hotel-Lobby, Cocktailbar oder Country-Club zu hören). Den Paris Summer besingen Nancy & Lee als einen Flirt, in dem jeder von beiden seine Geheimnisse hat, ihre Version von Jackson steht der von Johnny Cash und June Carter in nichts nach, mit dem schwülstigen (L’éte indien) Indian Summer erscheinen sie wie eine amerikanische Version von Serge Gainsbourg und Jane Birkin.
Down From Dover zeigt, wie sehr die Stimme von Nancy Sinatra einen Song prägen kann, wenn er genau auf sie zugeschnitten ist, und wird somit wieder ein Beweis dafür, wie kongenial diese musikalische Partnerschaft ist. „Sie gibt dem raspelnden Bass ihres Mentors Lee Hazlewood klasse Kontra, mit Haltung, Klasse und Sex-Appeal“, hat der Rolling Stone die typische Konstellation beschrieben, die sich auch hier findet. Mit Arkansas Coal (Suite) enthält Nancy Sinatra: Start Walkin‘ 1965-1976 auch eine Rarität dieser Zusammenarbeit: Das Lied wurde 1972 aufgenommen, aber erst in diesem Jahrtausend erstmals weltweit veröffentlicht. Es zeigt die experimentelle Seite dieses Duos als Collage einiger Fragmente, die auch für sich betrachtet recht abenteuerliche Momente enthalten.
Und dann sind da ja noch die Klassiker: Summer Wine hat einen tollen Groove, ein grandioses Arrangement und eine perfekte Chemie und Dynamik zwischen den beiden Stimmen. Als „sehnsüchtiges, unheilvolles Western-Chanson“ hat der Rolling Stone das Stück klassifiziert, das die Redaktion auf Platz 360 im Ranking ihrer All-Time-Top500 eingeordnet hat. Noch weiter oben, nämlich auf Platz 114, findet man dort Some Velvet Morning, „eine der kompositorisch größten Ungeheuerlichkeiten der gesamten Popgeschichte“. In der Tat ist dieses Stück aus dem Jahr 1967 wohl eines der verrücktesten Lieder, das jemals in die höheren Regionen der US-Charts vorgedrungen ist (damals reichte es für Platz 26): Insbesondere der langsame Walzerteil nimmt viel von dem vorweg, was ein paar Jahre später als Psychedelik groß rauskommen sollte, Nancy Sinatra singt dazu wie ein vergessenes Kind auf einem verrottenden Jahrmarkt. Dass Farris Baldwan (The Horrors), einer von vielen sehr coolen und sehr prominenten Nancy-Sinatra-Fans, das Stück noch 40 Jahre später als „one of the best songs ever written“ gefeiert hat, glaubt man sofort.
Keineswegs ohne Reiz sind freilich auch die Songs, in denen Lee Hazlewood nicht zu hören ist. Denn die Rolle als Transformatorin, die zwischen dem althergebrachten Frauenbild und dem liberalen Aufbruch der Flowerpower-Ära steht, hat Nancy Sinatra erkennbar auch in musikalischer Hinsicht inne. Viele ihrer Lieder kommen aus ganz traditionellen Genres wie Country, sehr geschickt infiziert sie diese Sounds aber mit Elementen aus dem Zeitgeist und führt sie so in die Gegenwart und Zukunft.
Im entspannt-verträumten Sugar Town kann man das merken, das von Sixties-Girlgroup-Sounds inspiriert ist. You Only Live Twice fährt alles auf, was ein Titeltrack eines James-Bond-Films (aus dem Jahr 1967) braucht und wird entsprechend mondän, sexy und abgebrüht. Happy lässt Soul-Elemente erkennen, das einfallsreiche Hook And Ladder scheint eine Roots-Variante von Abba zu erfinden, bevor es Abba überhaupt gab, Hello L.A., Bye Bye Birmingham kommt klar aus dem Folk und feiert dessen Troubadour-Ethos, How Are Things In California hätte herrlich zu den Mamas & Papas gepasst, längst nicht nur wegen des Titels und des tollen Harmoniegesangs. Lightning’s Girl ist noch so ein Beispiel, nämlich einerseits bloß ein aufgemotzter Countrysong, andererseits viel zu schräg, um Fans traditioneller Klänge gefallen zu können, etwa durch die irren Streicher zwischendurch oder den fast militärischen Beat.
Die CD-Ausgabe von Nancy Sinatra: Start Walkin‘ 1965-1976 enthält ein 64-seitiges Hardcover-Buch, das unter anderem mit einigen Interviews und Liner Notes aus der Feder von Amanda Petrusich (Autorin und Musikkritikerin beim New Yorker) einen guten Einblick in die hier dokumentierte Ära gibt. Die Entsprechung beim Doppel-LP-Vinylset ist ein Klapp-Umschlag mit einem 24-seitigen Booklet. So sehr das alles nach Swinging Sixties aussieht, so gut sind diese Songs gealtert. Die Ästhetik von So Lang Babe (mit der Zeile „I hope someday somebody listens to your song“, die lange Zeit als Credo für Lee Hazlewood hätte dienen können) ist nahe an Out Of Time von Chris Farlowe, Friday’s Child wagt etwas mehr Drama in der Nähe von Jefferson Airplane (Nancy Sinatra ist übrigens an einem Samstag geboren, Lee Hazlewood an einem Dienstag).
Bang, Bang stammt im Original von Cher, Nancy Sinatras Version, die nur auf Gitarre und Stimme setzt, wurde erst dann richtig bekannt, als das Lied 2003 im Vorspann von Quentin Tarantinos Kill Bill Volume 1 zu hören war. Es klingt, als habe der Song damals schon genau diesen Kontext im Sinn gehabt: vermeintlich stilvoll und unschuldig, aber grausam, blutig und abgründig. Dieses Gefühl von Gefahr kann man hier oft finden. Im provokanten Machine Gun Kelly legt sich diese „Kunst-Kreuzung aus Barbie, Barbarella und (zeitweise) Rockerbraut in Leder“ (Rolling Stone) mit Gangstern an, ohne mit der Wimper zu zucken. Natürlich gilt das auch für These Boots Are Made For Walkin‘, den Riesenhit aus dem Jahr 1966: Der Basslauf ist zurecht legendär geworden, der prototypische Shuffle-Beat unterstützt ihn perfekt, der Gesang ist mädchenhaft und arschcool, die Bläser sorgen ebenso für einen Extra-Kick wie die vermeintlichen Sado-Maso-Anspielungen. Das Lied ist so gut, dass Nancy Sinatra es quasi noch einmal gemacht hat, denn How Does That Grab You, Darlin‘? klingt wie ein Zwilling davon. Kind Of Woman unterstreicht noch einmal, was Nancy Sinatra damals zum Star und seitdem zum Vorbild gemacht hat, nämlich Selbtbewusstsein im Umgang mit ihrer Musik und ihrer Karriere, ebenso wie mit ihrem Liebesleben: „Im no man’s lady / if you’re no ladies man / so come and catch me, baby / If you can.“