Natalie Bergman – „Mercy“

Künstler Natalie Bergman

Natalie Bergman Mercy Review Kritik
Der Herr als Hirte ist ein wichtiges Motiv für Natalie Bergman auf „Mercy“.
Album Mercy
Label Third Man Records
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

+1 212-465-6741. Das ist die Nummer der Radio City Music Hall in New York. Am 3. Oktober 2019 wählte ein Gerichtsmediziner aus San Francisco diese Nummer, um die Geschwister Natalie und Elliot Bergman zu erreichen. Sie sollten wenige Stunden später mit ihrer gemeinsamen Band Wild Belle dort auf der Bühne stehen und vor 6000 Menschen spielen, als Vorgruppe von Incubus. Es war bis dahin ein ganz normaler Tag im Leben des Duos, das seit seinem ersten öffentlichen Auftritt im Jahr 2012 drei Alben veröffentlicht hatte und praktisch permanent auf Tour war, unter anderem im im Vorprogramm von Beck oder Cage The Elephant. Der Anruf aus San Francisco sollte allerdings alles verändern. Denn die Nachricht des Gerichtsmediziners an die Bergmans lautete: Ihr Vater und ihre Stiefmutter sind tot. Beide saßen in einem Taxi, als sie zum Opfer einer vermutlich betrunkenen Geisterfahrerin wurden.

Natürlich fand der Auftritt in New York dann nicht mehr statt. Wild Belle nahmen den ersten Flug in ihre Heimatstadt Chicago und versuchten, den Schock so gut wie möglich zu verdauen und die nötigen Formalitäten hinter sich zu bringen. Natalie Bergman, die jüngere Hälfte des Geschwisterpaars, musste sich danach erst einmal sammeln. Sie zog sich in ein Kloster in New Mexico zurück und nahm dann in ihrer kalifornischen Wahlheimat Mercy auf, ihr erstes Soloalbum. Obwohl die heute 32-Jährige gut die Hälfte ihres Lebens in Bands verbracht hat, ist dies das erste Mal, dass sie auch prominent als Autorin hervortritt. Und natürlich sind die zwölf Songs so etwas wie musikalische Trauerarbeit. Genauer gesagt: ihre eigene Interpretation von Gospel.

„Mein Glaube und meine Musik sind die wichtigsten Dinge in meinem Leben“, sagt Natalie Bergman. „Auf dieser Platte singe ich viel über mein Zuhause. Mein Paradiso, meinen Himmel. Der Glaube an diesen Ort ist mein größter Trost gewesen. Ich hatte das dringende und verzweifelte Bedürfnis, zu wissen, dass mein Vater dort war. Sein plötzlicher Tod war ein wirbelndes Chaos, das meinen Verstand überfiel. Gospelmusik gibt mir Hoffnung. Sie ist die gute Nachricht. Sie ist beispielhaft. Sie kann dir die Wahrheit bringen. Sie kann dich am Leben erhalten. Dieses Album hat mir die einzige Hoffnung gegeben, selbst wieder ins Leben zu kommen.“

Mal klingt das wie eine spirituelle Variante von Lana Del Rey (Home At Last), manchmal gibt es Empfehlungen für das Diesseits (Paint The Rain), zudem zeigt sie hier immer wieder den Variantenreichtum in ihrem Gesang, etwa in He Will Lift You Up Higher. Der Herr als Hirte ist das wichtigste Motiv, sowohl für die Verstorbenen, die nun bei ihm sind, als auch für die, die auf Erden leiden und zweifeln. Im reduzierten You Make My World Go Round kann im Sound man ein wenig diese Trauer hören, auch The Gallows könnte rund um die Zeile „I will live in sorrow / ´til the day I die“ ein uralter Klassiker dieses Genres sein, mit dem sich einst die versklavten Schwarzen in Amerika über ihr Schicksal trösten wollten.

Wer den Entstehungskontext von Mercy kennt und mit Gospel sonst nicht viel am Hut hat, wird besonders erstaunt darüber sein, wie viel Leichtigkeit und Hoffnung trotz des traurigen Anlasses in diesen zwölf Liedern stecken, bei deren Produktion Elliot Bergman und Erik Hall unterstützt haben. Schon die Single Talk To The Lord als Auftakt des Albums zeigt das: Die Stimme klingt niedlich und verletzlich, das spannende Arrangement lebt aber vor allem von seinen sehr lebendigen Percussions, die für etwas sorgen, was man durchaus „Groove“ nennen könnte. I Will Praise You ist verspielt und heiter, in I’m Going Home weist vor allem der Bass den Weg von der Trauer zum Lächeln, aus der Dunkelheit ins Licht.

Das sehr schicke Shine Your Light On Me scheint aus der Zeit um 1970 zu stammen, schmerzt mit den Versen „He was my greatest love / I cry for him“ und findet Zuversicht im Call-and-Response mit Gastsängerin Elsa Harris und den Larry Landfair Singers, mit denen Natalie Bergman auch bei der Beerdigung ihres Vaters gesungen hat. Das innige und sehnsuchtsvolle Your Love Is My Shelter besingt rund um die Zeile „Your death is an amputation“ die absurde Situation, dass sie Trost für ihren Verlust bei ihrem Vater suchen will, aber genau der ist es ja, um den sie trauert. Sweet Mary ist an die Stiefmutter gerichtet. Auch da steckt im Gedanken „Paradise is calling your name“ wieder die Wunschvorstellung, wie gut sie es jetzt hoffentlich hat.

Last Farewell beendet das Album wie ein musikalisches Protokoll des Tags, an dem sie die Todesnachricht erhalten haben. Es ist ein erschütterndes Lied über die Situation, dass sich eine Tatsache nicht mehr ändern lässt, auch wenn sich alles im Innern dagegen sträubt, sie anzuerkennen. Ihren Bruder stellt Natalie Bergmann darin als wichtige Stütze dar, doch Mercy macht deutlich, was für sie letztlich noch wichtiger war: Musik.

Das Video von Talk To The Lord scheint weitere Versuche der Trauerarbeit zu zeigen.

Website von Wild Belle.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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