Nichts was uns passiert Review Filmkritik

Nichts, was uns passiert

Film Nichts, was uns passiert

Nichts was uns passiert Review Filmkritik
Anna (Emma Drogunova) wird von Jonas (Gustav Schmidt) vergewaltigt.
Produktionsland Deutschland
Jahr 2022
Spielzeit 82 Minuten
Regie Julia C. Kaiser
Hauptdarsteller*innen Emma Drogunova, Gustav Schmidt,
Lamin Leroy Gibba, Shari Asha Crosson
Bewertung

Worum geht’s?

Die 27-jährige Anna hat ihr Sprachwissenschafts-Studium erfolgreich abgeschlossen und macht nun die ersten Karriereschritte als Dolmetscherin. Über ihren besten Freund und Ex-Mitbewohner Hannes lernt sie Jonas kennen, der gerade promoviert. Sie quatschen in der Bibliothek, gehen dann spazieren, philosophieren am Rheinufer. Der gemeinsam verbrachte Tag endet mit einem One-Night-Stand, denn insbesondere Jonas macht danach klar, dass er nicht an einer Beziehung interessiert ist. Sie sehen sich weiter regelmäßig durch ihren gemeinsamen Freundeskreis, so auch bei der Feier zum 30. Geburtstag von Hannes. Beide kommen wieder ins Gespräch, klären ein paar Konflikte zwischen ihnen und betrinken sich hemmungslos. Jonas nimmt Anna, die sich bereits übergeben hat und nicht mehr auf eigenen Füßen stehen kann, mit in sein Zimmer. Wieder verbringen sie die Nacht zusammen und haben Sex. Er sagt: einvernehmlich. Sie sagt: Ich habe Nein gesagt und mich gewehrt. Als Anna die Tatsache, dass sie von ihm vergewaltigt wurde,  vollends realisiert hat, zeigt sie Jonas zwei Monate nach der Tat bei der Polizei an. Die Ermittlungen laufen schleppend, noch schwieriger ist indes der Umgang des gemeinsamen Umfelds mit den Ereignissen. Die Vergewaltigung hat Annas Vertrauen zerstört – auch in sich selbst. Als sie für einen Podcast zu den Geschehnissen befragt wird, bietet sich die Chance, alles noch einmal aufzuarbeiten und ihre Sicht der Dinge darzustellen, doch zugleich die Gefahr, dass kaum verheilte Wunden wieder aufreißen.

Das sagt shitesite:

Angeblich gab es vor der deutschen Wiedervereinigung ein beliebtes Ritual, wenn jemand den Kriegsdienst bei der Bundeswehr mit dem Verweis auf den eigenen, unumstößlichen Pazifismus verweigern wollte. Man fragte diese jungen Männer dann: Wenn du eine Waffe in der Hand hättest und dabei zusehen müsstest, wie deine Mutter oder deine Schwester gerade vom Feind vergewaltigt werden – würdest du dann nicht auch schießen und töten?

Ein wenig nach diesem Prinzip läuft die Handlung von Nichts, was uns passiert ab, die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Bettina Wilpert. Junge Menschen werden hier einem Reality Check unterzogen und mit der Frage konfrontiert, wie viel ihre ach so ehrenhaften, ach so tief empfundenen Überzeugungen eigentlich wert sind, wenn es hart auf hart kommt. Denn Anna und Jonas kommen aus einer Welt, in der alle anständig, rücksichtsvoll, integer, sprachsensibel und nachhaltig sein wollen. Alles wird bei ihnen und ihren Freund*innen auf seine ethische Korrektheit hin durchdiskutiert und analysiert, vom T-Shirt-Kauf bis zum Fitnessvideo, und es ist für das Publikum, das nicht aus der Gen Z kommt, wohltuend (und auch etwas anstrengend), ihrem aufgeklärten, um maximale Rücksicht bemühten Diskurs zu folgen.

Genau wegen der Omnipräsenz von Wokeness in ihrem Alltag geht es hier nicht so sehr um Ermittlungsarbeit und die juristische Klärung der Tat, sondern um die Frage: Wie passt so eine Tat in unsere Welt, die doch vermeintlich voller Respekt und Rücksichtnahme ist? So ist der Titel des Films gemeint: Vergewaltigung – das passiert vermeintlich nur woanders. Dort, wo nicht-woke Cis-Männer sich ungehemmt austoben und Frauen den Wert sexueller Selbstbestimmung nicht kennen. Beinahe noch schmerzhafter als das Trauma des Missbrauchs arbeitet deshalb in Anna, wie sehr ihr eigenes Selbstverständnis erschüttert ist. Sie fragt sich, wie sie als selbstbewusste, aufgeklärte Frau in solch eine Situation geraten konnte („Ich hasse mich dafür, die Kontrolle verloren zu haben.“), und sie fragt sich noch mehr, wie sie mit den Folgen und ihrer eigenen Scham umgehen soll, als sie kaum jemanden findet, dem sie sich anvertrauen kann. „Ich bin doch nicht so ein #MeToo-Opfer“, sagt sie im Gespräch mit ihrer Schwester, die ihr schließlich dazu rät, Anzeige zu erstatten.

Es gehört zu den Stärken von Nichts, was uns passiert, dass auch Jonas in seinem Selbstbild irritiert ist. Während Anna kein Opfer sein will, muss er sich trotz des Abstreitens des Vergewaltigungs-Vorwurfs fragen: Wie vereinbare ich es mit meinen Werten, dass ich jetzt Täter bin? „Warum passiert mir so etwas? Ich bin einer von den Guten!“, fragt er sich, als der Fall im Freundeskreis bekannt wird, er sich rechtfertigen muss und angefeindet wird. Der Film wird damit wohltuend ambivalent, aber nicht apologetisch. Es ist klar, dass Anna die dominantere Person in diesem Duo ist (sie ist diejenige, die Kondome griffbereit neben dem Bett hat, während er sich Sex ohne Liebe bis zu diesem One-Night-Stand gar nicht vorstellen konnte), ebenso wird mindestens angedeutet, dass Jonas sich durch ihre Schlagfertigkeit und Direktheit herausgefordert sieht und den Sex mit der halb bewusstlosen Anna vielleicht auch als Akt begreift, sich ihm die rhetorisch und intellektuell überlegene Frau zu unterwerfen. Die entscheidende Szene der Nacht ist dabei für die Zuschauer*innen nicht zu sehen, so wie sich der Film auch insgesamt jeglichen Voyeurismus verbietet.

Ein Verdienst ist auch der Hinweis darauf, dass Vergewaltigung längst nicht immer bedeutet, dass ein finsterer Mann eine ahnungslose Frau in die Büsche zerrt und dort blutig und gedemütigt zurücklässt. Anna und Jonas fühlen sich hingezogen zueinander, aber sie konkurrieren auch. Sie liefern sich einen intellektuellen Wettbewerb, wenn sie über die integrative Kraft des Fußballs oder das beste Buch aller Zeiten diskutieren, sind aber zugleich jeder auf seine Weise überfordert vom Verhalten des jeweils anderen. Jonas ist verunsichert von Annas Forschheit. Sie versteht nicht, warum er nach dem ersten One-Night-Stand die Gelegenheit zu einer harmlosen Affäre in diesem Sommer voller Gartenpartys und Kneipenabende verstreichen lässt, und fühlt sich zurückgesetzt. Es geht in dieser Beziehung beiden um Selbstbehauptung, und die Vergewaltigung einschließlich der Bewältigung ihrer Folgen eskaliert dieses Problem. Dabei unterstreicht Nichts, was uns passiert auch, wie schwierig es für die Opfer ist, ernst genommen zu werden und sich nicht allein gelassen zu fühlen. Denn selbst im engsten Freundeskreis stößt Anna hier auf Zweifel und Hilflosigkeit, was erneut andeutet, wie wenig belastbar das woke Mindset in einer echten Krise sein kann. Alle wollen verständnisvoll sein, aber keiner in ihrem Umfeld weiß mit der Situation umzugehen, eine Position und Haltung dazu zu finden, sodass die Reaktionen von Misstrauen über Stigmatisierung bis hin zum Victim Blaming reichen.

Der Blick auf das Umfeld ist ein enormer Pluspunkt für diesen wunderbar klugen und vielschichtigen Film. Regisseurin Julia C. Kaiser führt die Figur der Podcasterin Kelly ein (die es im Roman nicht gibt, der obendrein in Leipzig statt Köln spielt), die nicht nur Anna und Jonas zum Geschehen befragt, sondern auch deren Freunde und Verwandte. So schafft sie sehr elegant eine Struktur für ein multiperspektivisches Erzählen auf mehreren Zeitebenen, das zur unterschiedlichen Wahrnehmung der beiden Beteiligten passt und zugleich viele wichtige Facetten der Problematik mit einbringt. Diese ruhige, tastende Erzählweise passt perfekt zur Sensibilität des Themas (erst nach 20 Minuten wird für Zuschauer*innen ohne Vorwissen ungefähr klar, dass es hier nicht um die Geschichte einer harmlosen Liebelei geht, nach 40 Minuten fällt erstmals das Wort „Vergewaltigung“) und entspricht auch dem Umstand, dass Anna und Jonas das Geschehen unterschiedlich erlebt haben und nun quasi sich widersprechende Realitäten verteidigen. Formal auf die Spitze getrieben wird das, indem sie wenige Schlüsselszenen zweimal erzählt, mit kleinen Abweichungen, einmal aus ihrer, einmal aus seiner Wahrnehmung. „Wenn du die Wahrheit auf eine Stimme reduzierst, dann ist sie falsch“, sagt Anna an einer Stelle im verbalen Clinch mit Jonas, und Nichts, was uns passiert zieht alle Register, um diese These zu untermauern, ohne das Ausmaß des Übergriffs zu verharmlosen oder den Täter zu entschuldigen.

Bestes Zitat:

„Du musst dich für nichts schämen, weil es nicht deine Schuld ist. Was dir passiert ist, sagt nichts darüber aus, wer du bist.“

Der Trailer zum Film.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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