Künstler | Nick Cave & Warren Ellis | |
Album | Carnage | |
Label | Awal | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
„What doesn’t kill you just makes you crazier“, singt Nick Cave im letzten Song dieses Albums, der den Titel Balcony Man trägt. Zwei gute Gründe gibt es, die Betrachtung von Carnage mit dieser Zeile zu beginnen. Erstens verweist sie auf die Schicksalsschläge, die Nick Cave unlängst einstecken musste, ebenso wie auf die Entschlossenheit, sich gemeinsam mit seinem langjährigen Mitstreiter Warren Ellis auf Experimente einzulassen und Grenzen zu erweitern. Ellis, der erstmals 1993 mit Nick Cave zusammengearbeitet und später auch etliche Soundtracks mit ihm gemeinsam komponiert und aufgenommen hat, längst auch ein zentrales Mitglied seiner Begleitband The Bad Seeds ist und ein wichtiger Strippenzieher beim letzten Album Ghosteen war, beschreibt die Arbeitsweise so, dass „da zwei Menschen im Raum sitzen und sich etwas trauen, indem sie erst mal einfach passieren lassen, was gerade passiert“.
Zweitens verweist der Songtitel Balcony Man auf die Entstehungsgeschichte dieser Platte, die vorgestern digital veröffentlicht wurde und am 28. Mai auch physich verfügbar sein wird. Die meisten Ideen für die acht auf Carnage versammelten Lieder entstanden in den ersten Wochen des Corona-Lockdowns, die Cave nach eigenen Angaben nutzte, um „zu lesen, regelrecht zwanghaft zu schreiben und einfach nur auf meinem Balkon zu sitzen und über die Dinge nachzudenken“. Als er mit diesem Material gemeinsam mit Ellis ins Studio ging, war angesichts der schon erwähnten, sehr freigeistigen Herangehensweise nicht zwingend an eine gemeinsame Veröffentlichung gedacht. „Das Album ist dann einfach so vom Himmel gefallen. Es war ein Geschenk“, sagt Nick Cave.
Hand Of God eröffnet die Platte mit einem gesprochen Part, der eine Predigt sein könnte. Dann setzen ein elektronisch anmutender Beat und raumgreifende Streicher ein, der Text könnte aus einem Blues-Klassiker stammen. Diese Kombination ist sehr typisch für Carnage – auch, weil die Elemente sich durchweg lieber kontinuierlich aneinander reiben als tatsächlich miteinander zu verschmelzen. Der Opener bleibt deshalb ein Flirren. Die Rhythmuselemente im folgenden Old Time sind nahe an TripHop, es könnte ein Drone oder Krautrock werden, stoppt aber kurz, bevor es solche Formen wirklich annimmt. Dazu gesellen sich dann etwas Orientalisches, kurze Noise-Attackte aus der E-Gitarre und am Ende eine Frauenstimme als Begleitung. White Elephant ist ein Dub, der auch deshalb so bedrohlich wird, weil der Gesang hier eher besonnen klingt denn leidenschaftlich. Nach der zunächst heraufbeschworenen Drohkulisse kommt ziemlich überraschend ein Quasi-Gospel-Part. Der Song ist ein gutes Beispiel für eine Qualität, die man bei Nick Cave so häufig finden kann: Man hört, wie viel Schauspiel in seinem Gesang steckt, trotzdem wirkt alles durch und durch authentisch.
Albuquerque erweist sich rund um eine fast niedliche Klaviermelodie als Traum von gemeinsamen Reisen, die vorerst ein Traum bleiben müssen. Lavender Fields hat ein paar Orgelakkorde als Basis, sie schwellen an und ab, als würde sich das darin besungene Feld im Wind wiegen. Shattered Ground hat einige der schönsten Verse auf Carnage zu bieten („There is a madness in her / and a madness in me / together it forms some kind of sanity“), die Stimme von Nick Cave dominiert hier noch mehr, weil sie nur von ein paar Keyboardflächen begleitet wird.
„Die Arbeit an Carnage war eine komprimierte Phase intensivster Kreativität“, blickt Warren Ellis zurück, „denn es dauerte gerade mal zweieinhalb Tage, bis diese acht Songs in irgendeiner Form standen.“ Cave charakterisiert das Werk als „eine brutale, aber wunderschöne Aufnahme, eingebettet in eine gemeinschaftliche Katastrophe“. Nicht zufällig kann man im Titelsong noch ein paar zentrale Stärken dieser Zusammenarbeit erkennen: Das Stück hat einen tollen, wehmütigen, romantischen Refrain, kombiniert mit erhebenden Streichern, was einen Sound irgendwo zwischen Leonard Cohen und Röyksopp entstehen lässt. Und es hat eine Zeile, die ihrerseits bestens die Wirkung von Carnage auf den Punkt bringt: „This song is like a rain cloud that keeps circling over you.“